Carsten Wolff

Der Geist der Djukoffbrücke


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von einer großen und weit verstreuten Familie auch aus Russland gesprochen. Seine Eltern seien bei einem Unglücksfall gestorben. Klavier, Gesang, Malerei und Schach habe er erlernt, denn auf Bildung sei immer Wert gelegt worden. Nun studiert er Slawistik, Philosophie, ab und zu spielt er Klavier in Bars. Immer nachts. Wie gut er spielt, habt ihr gestern mit anhören können……«

      »Warte!«, rufe ich aus.

      »Große Familie und nachts. Davon hat er dir erzählt?«

      »Genau das!«

      »Zu mir hat er gestern bei Nagel folgendes gesagt: Ich liebe auch die Einsamkeit und die große Familie, allerdings die der Nacht!«

      »Irgendwie komisch ist es schon. Und auch, dass er immer in der Nacht aktiv ist. Also ich schlafe nachts!«, behauptet mein Freund. Was ich ihm gern zugestehe und ich selber für mich genauso beanspruche.

      »Ich kenne eigentlich nur eine Figur, die das Helle fürchtet. Und ganz ehrlich: Diese Gestalt macht mir Angst«, antworte ich und gucke meinen Freund sehr ernst an. Der lacht laut auf.

      »Haha! Jetzt willst du mir etwas vom Teufel erzählen! Haha! Ich glaube, ihr spielt zu viel auf der Playstation!«

      »Vielleicht ja unser junger Fürst? Aber eine Verbindung haben wir nun zu Russland. Wahrscheinlich will er deswegen Luba sprechen und sich mit ihr auf Russisch unterhalten, schließlich studiert er ja diese Sprache. Wann hast du ihm denn etwas von meiner Freundin erzählt?«, hake ich nach.

      »Kann ich mich nicht erinnern. Hm, eigentlich nicht. Ich habe ihm gesagt, dass du jemanden mit Bezug zu Russland kennst«, und er deutet mit dem Finger auf mich.

      »Keine Luba erwähnt?«

      »Nein, keine Luba erwähnt. Wahrscheinlich hast du gestern während der Autofahrt oder bei Nagel davon gesprochen?«

      »Vermutlich, ja! Ja, so wird es gewesen sein«, reagiere ich zweifelnd und fahre fort.

      »Helmut, eine Bitte habe ich an dich. Wenn er das nächste Mal bei dir ist oder sich ankündigt, ruf mich an. Machst du es?«

      »Klar, mache ich es. Haha, dann kannst du dich mit dem Fürsten der Nacht treffen«, und ein wohlgelaunter Helmut guckt mich glücklich an.

      »Haha, der nächtliche Fürst der Playstation.«

      »Zum Schluss: Ich wollte dir noch einmal für die tolle Feier von gestern danken. Luba wäre gern auch dabei gewesen, aber sie fühlte sich nicht. Sie ist auch 91 Jahre alt«, bedanke ich mich bei Helmut.

      »Grüße sie von mir. Schade eigentlich. So hätte sie selbst mit dem dunklen Gesellen sprechen können!«

      »Danke dir, Helmut und bis bald!«

      Auf dem Nachhauseweg grübele ich weiter. Vielmehr über Helmut, der auf mich einen eher sorglosen Eindruck hinterlassen hat. Zuerst auf der Feier und auch heute wieder. Er versteckt bestimmt eine neue Freundin vor mir? Naja, das werde ich das nächste Mal aus ihm herauskitzeln.

      Luba ist nicht Zuhause, das sehe ich. Wir haben uns beide eine eher verschrobene Eigenschaft angewöhnt. Ist einer von uns nicht zuhause ist, schieben wir den Fußabtreter immer nach rechts in die Ecke, ansonsten liegt dieser in der Mitte. Ihre Matte ist nach rechts verschoben. Dann wird sich später bei mir noch melden, wenn sie zurückkommt, denke ich noch. Außerdem kommt mir ihre Abwesenheit zupass, bin ich immer noch geschafft von der letzten Nacht und von dem Gespräch mit Helmut.

      Unverzüglich lege mich auf meine Couch. Wie nicht anders zu erwarten, schlafe ich sofort ein. Wilde Träume begleiten mich. Menschen, Tiere und Bäume tauchen vor meinem inneren Auge auf. Lebendig und in Bewegung, dann wieder von Starre gezeichnet. Farben von Grau bis Schwarz füllen diese Körper aus. Sie schweben, überdecken sich, trennen sich, überdecken sich wieder und werden sich dabei immer ähnlicher, so als wären sie von einer Sucht nach Ähnlichkeit befallen oder von einem Bazillus der Zweidimensionalität, die sich langsam zur dritten Dimension aufbläht, dann wieder zurückfällt und sich förmlich auf ein Blatt Papier reduziert. Das Blatt beginnt zu schweben, sich in Wellenform zu gestalten, zu drehen, zu rollen, bis es sich wie ein Umhang ausbreitet und über den dunklen Raum legt. Plötzlich erscheint eine dünne, spinnenartige Figur, die nach dem Umhang greift und sich diesen über die schmalen Schultern wirft und laut zu lachen anfängt…. …hahahahaha…hahahahaha, immer wieder wie ein Schnarren klingt es. Ich fahre hoch. Hahahahahaha, wieder ertönt das hässliche Schnarren der Türklingel!

      Luba steht vor meiner Haustür und guckt mich mit einem entsetzten Blick an, dem ich nicht standhalten kann. Gerädert winke ich ihr noch schlaftrunken zu und bitte sie, hereinzukommen.

      »Was ist nur mit dir los heute? Bist du krank?«, poltert sie sofort los und fährt dann leiser und milder fort:

      »Ich habe mir Sorgen gemacht, dass du nicht aufmachst, weil die Fußmatte….«

      »Zeigt, dass ich zuhause sein muss! Das meinst du! Ich bin total geschafft von gestern und bin eingeschlafen, als du mich jetzt eben aus einem wilden Traum geweckt hast! Entschuldige bitte, aber es geht mir sonst einigermaßen gut. Komm, setz dich und ich werde dir erzählen, was sich heute zugetragen hat.«

      »Das ist auch dringend notwendig!«, meldet sie sich wieder forsch.

      Ich erzähle ihr nochmals, was alles in den letzten Stunden so vor sich gegangen ist: Von der Feier, dann vom Gespräch bei Nagel und zuletzt von meinem heutigen Treffen mit Helmut. Sie hört sich alles geduldig an. Zum Schluss frage ich meine Freundin:

      »Hast du dir bereits ein paar Gedanken gemacht?«

      »Ja, aber davon erzähle ich dir später. Ich habe eine Überraschung für dich!«, und sie grinst mich überschwänglich an.

      »Was nun wohl kommt?«, murmele ich mir in meinen nicht vorhandenen Bart.

      »Wir gehen morgen in eine Ausstellung über Giacometti in die Kunsthalle! Du magst den Künstler sehr, hast du mir mal erzählt!«

      »Das stimmt!«

      »Ist etwas, weil du dich nicht wirklich freust?«

      »Doch, doch! Im Augenblick ist alles merkwürdig und passt doch irgendwie zusammen. Bei Nagel heute Nacht war Giacometti auch ein Thema. Hm! Ich danke dir. Es wird eine sehr schöne Ablenkung werden!«

      Tags darauf schlendern wir dorthin. „Die Spielfelder“, so lautet der Name der Ausstellung. Und diese zeigt „wie wegweisend das kaum bekannte surrealistische Frühwerk des Ausnahmekünstlers für sein Œuvre ist: In der neuartigen horizontalen Ausrichtung der fragilen Unikate entwickelt Giacometti die Idee der „Skulptur als Platz", so lautet die Ankündigung.

      »Dann lassen wir uns überraschen«, meint meine Partnerin.

      »Weißt du, Luba, das ist nicht wohl überlegt, was du gerade gesagt hast!«

      »Stimmt! Überraschungen gibt es seit den letzten zwei Tagen zur Genüge. Aber lass uns jetzt den Kopf freihalten und die Sammlung betrachten gehen.«

      Die Ausstellung ist sehr gut besucht. Überall laufen die Leute, zumeist mit den Erläuterungsgeräten behängt, herum. Ernste, angestrengte, nachdenkliche, kunstbeflissene Gesichter begleiten uns. Fachkundige Menschen, die jedes Werk ausgiebig betrachten wollen.

      Die Hamburger Kunsthalle der Moderne ist ein unglaublich gelungenes Bauwerk. Die Lichtfülle von innen und außen, die der Architekt Oswald Mathias Ungers bewusst durch die großen Fenster geplant hat, wirft ein sehr natürliches Licht in die Räume. Aber das ist nur der eine Aspekt des Baus. Bewegt man sich darin, entsteht sofort der Eindruck, selbst zum Kunstwerk oder Ausstellungsstück zu werden. Die Transparenz der Fenster verkehrt innen mit außen und umgekehrt. Jedes Mal lässt mich dieser Zustand ins Schwärmen geraten und überrascht mich aufs Neue. Und wenn ich meine Luba ansehe, ergeht es ihr sehr ähnlich, jedenfalls verrät es ihr augenblicklicher Gesichtsausdruck.

      Sehr schnell wird klar, warum Alberto Giacometti ein genialer Künstler war und immer noch ist, und warum sein Werk die Menschen