A. C. Risi

PID - Tödliches Erbe


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Dokumente für ihre Recherche auf die Schreibtischplatte geklatscht hatte und danach ohne ein weiteres Wort verschwunden war.

      Für ihn war der Moment gekommen, Klartext zu reden.

      „Komm her, setz dich zu mir.“

      Emma seufzte, tat ihm aber den Gefallen. Er ist alt geworden, dachte sie – so um die siebzig -, aber seine ruppige Art vermochte sie noch immer ein wenig einzuschüchtern. Wieso war er überhaupt noch hier?

      „Also, meine Kleine“, unterbrach er ihre Gedanken. „Was soll dieser plötzliche Aufstand? Denkst du, ich habe damals meine Arbeit nicht richtig gemacht? Denkst du das?“

      „Nein“, sagte sie, „das denke ich nicht, es ist nur …“ Sie musste vorsichtig mit ihren Worten umgehen, wenn sie ihn nicht vor den Kopf stossen wollte. Er war schon immer sehr empfindlich gewesen, wenn es um seine Arbeit ging. „Du verstehst das nicht.“

      „Oh, und ob ich verstehe!“ In seiner Stimme lag ein gefährliches Knurren. Er kniff die Augen zusammen und wartete.

      „Es ist schwierig“, sagte sie, „Ich habe Fragen und auf die will ich Antworten.“

      „Na gut, ich weiss das, dennoch hat sich an den Tatsachen nichts verändert – die da sind: Du warst nicht mal annähernd in der Nähe der Absturzstelle, die war über einen Kilometer weit von deinem Fundort entfernt, du warst verletzt – ich selbst habe deinen zertrümmerten Oberschenkelknochen weiss durch das zerfetzte Fleisch schimmern sehen - es war …“ Alfred Leclerc brach ab. Stöhnend verzog er das Gesicht. „Du musst höllische Schmerzen durchgestanden haben, und dennoch, trotz all der Qualen hast du keinen Mucks von dir gegeben, das war das Schlimmste überhaupt. Ich hätte heulen können. Du hast so hilflos ausgesehen, wie du da so schutzlos auf Margaretes Küchentisch gelegen hast, auf diesem geblümten Wachstuch, dem grellen Licht ausgesetzt, wie eine zerbrechliche kleine Porzellanpuppe. Hätte Alain dich nicht rechtzeitig gefunden und in sein Haus gebracht … – ich weiss nicht.“ Der alte Mann brach ab.

      Emma schwieg. Diesen Teil der Geschichte kannte sie bereits. Sie legte Alfred eine Hand auf den Arm und erlöste ihn von den Erinnerungen.

      Er zwinkerte kurz, dankbar, nicht mehr daran denken zu müssen, aber er blieb dabei. „Niemandem in einem solch desolaten Zustand wäre es gelungen, eine solche Strecke zu bewältigen – auch dir nicht. Ach ja und noch etwas, es gab keine Anzeichen von Verbrennungen, nicht ein versengtes Haar. Gar nichts.“ Er schüttelte entschieden den Kopf.

      Emma wollte etwas einwenden.

      „Moment! Ich bin noch nicht fertig. Lass mich das jetzt zu Ende bringen.“ Er durchwühlte die Akte. „Hier!“

      Sie wusste, was jetzt kam.

      Er streckte ihr die Passagierliste entgegen. „Hast du dir die mal angesehen?“

      „Ja, hab ich.“

      „Nun, dann weisst du auch, dass nur ein einziger Passagier an Bord war. Irgend so ein Doktor.“ Er wedelte ungeduldig mit der Hand in der Luft herum.

      „Dr. Kaspar Junot.“ Emma hatte den Namen noch im Kopf.

      „Ja, genau – so ein verkorkster Heini aus der Pharmaindustrie mit mehr Doktortiteln vor seinem Namen, als ich Freunde habe. Doktor der Biologie, Doktor der Medizin, und so weiter und so fort, und wie das Leben so spielt, keiner dieser Titel hat ihn, als es darauf ankam, vor dem Tod bewahren können.

      Auch die Besatzungsmitglieder hatten keine Chance, die Gerichtsmedizin sah sich nicht mal mehr in der Lage, die paar übrig gebliebenen Knochen einem der Namen zuzuordnen. Vier Menschen waren an Bord der Unglücksmaschine – drei davon gehörten zur Crew. Vier trauernde Witwen und deren Familien haben die Todesopfer betrauert und zu Grabe getragen. Fällt dir dabei nichts auf?“

      Alfred sprach weiter, ehe Emma antworten konnte. „Was denkst du – wo war deine Familie? Glaubst du auch jetzt noch, dass du mit diesen unglücklichen Menschen in dem Flugzeug gesessen hast?“ Leclerc zog sich von seinem Stuhl hoch und beugte sich vor, die schweren rauen Hände auf den Tisch gestützt. Die verwurmten Tischbeine knarrten bedrohlich und sein Gesicht war dem von Emma jetzt so nah, dass sie befürchtete, sich in den tiefen Falten seines langen Lebens zu verlieren. Die blassblauen Augen schwammen hinter einem zähen Schleier aus Tränenflüssigkeit, doch dahinter funkelte der gelassene Blick eines Mannes, der wusste, wovon er sprach.

      „Lass die Sache ruhen, Kind. Es gibt Fragen, auf die gibt es keine Antwort, auch wenn du es dir noch so sehr wünschst. Mach dich nicht unglücklich und vertrödle nicht wertvolle Zeit, indem du einem Hirngespinst hinterherjagst.“

      Emma war diese Art der Problemlösung zu einfach. Sie verstand seinen Standpunkt, aber er war nun mal nicht sie. „Ist dir nie der Gedanke gekommen“, fragte sie, „dass Vater und Mutter gelogen haben könnten, was den Fundort anbelangt? Mutter hat mir mal gesagt, sie hätten nie eigene Kinder bekommen können.“

      „Und wenn schon“, brummte Alfred. „Was hätte das damals geändert? Nichts. Denk an die Passagierliste. Ein Passagier war an Bord. Einer!“ Er richtete sich zu seiner vollen Grösse auf, eine noch immer beeindruckende Gestalt. „Sei klug, Emma, vergiss das Ganze. Hör auf, deine kostbare Zeit mit diesem Unsinn zu vergeuden! Du hast doch einen interessanten Beruf. Musst du nicht arbeiten? Du hast bestimmt Besseres zu tun, als hier rumzuschnüffeln und in alten Akten zu wühlen? Geh nach Hause, Kind. Lass die Vergangenheit ruhen.“

      Er wandte sich zum Fenster und schickte einen langen prüfenden Blick die leere Dorfstrasse rauf und runter, eine Angewohnheit aus längst vergangenen Tagen, als auf den Strassen noch etwas los war.

      „Vergiss, was war“, sagte er. „Lebe und schaue nach vorn!“ Leclerc seufzte resigniert, als er die wilde Entschlossenheit in ihren Augen funkeln sah, ehe sie sich entschieden abwandte. Sie ist noch genauso stark wie damals. Er würde sie niemals umstimmen können, das wusste er nun. Für sie würde es nie zu Ende sein. Nicht, ehe ihre eigenen Nachforschungen genauso im Nichts versandeten wie seine eigenen – vor vielen Jahren.

      Sie waren sich sehr ähnlich, fand er. Er hatte schliesslich auch nie - trotz all der Krummen, deren Rauch seinen Kopf umwölkt hatte – mit der Möglichkeit gerechnet, an Lungenkrebs zu sterben, auch dann noch nicht, als ihm der Arzt das Röntgenbild seiner befallenen Lungen gezeigt hatte. Erst Schmerzen und Atemnot liessen ihn zu spät begreifen …

      Er ging auf sie zu. „Tu, was du nicht lassen kannst“, brummte er. „Ich muss jetzt los. Wenn du hier fertig bist, schliess bitte die Tür und wirf den Schlüssel in den Briefkasten.“ Auf ihren ungläubigen Blick hin entgegnete er: „Es passiert schon nichts. Die Leute hier kennen einander, ausserdem, auch hier hat man jetzt Mobiltelefon …“ Sie hörte die tiefe Verachtung in seiner Stimme. „Ende des Jahres wird der Posten sowieso für immer geschlossen.“

      „Mach ich“, sagte Emma leise, „in den Briefkasten also.“ Sie lächelte ein wenig traurig und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Und danke.“

      Leclerc winkte ab. „Es war schön, dich mal wieder zu sehen.“ Er drückte sie kurz an sich. „Du solltest dir mal wieder etwas zwischen die Zähne schieben, du bist dünn wie eine Bohnenstange. Und noch was, wenn du das nächste Mal so kurzfristig reinschneist, ruf mich vorher an – verstanden?!“ Seine Stimme klang spröde und in Gedanken fügte er hinzu: Dein Besuch könnte sonst womöglich für die Katz sein.

      „Versprochen.“

      „Bleib sauber, Mädel.“ Damit wandte er sich um und verliess das Büro durch die Tür zur Strasse.

      Emma blickte ihm durch das Fenster hinterher, sah, wie er in die Gasse zum Bahnhof einbog, dort kurz mit einem Passanten ein paar Worte wechselte und dann zwischen den Häusern verschwand.

      Würde sie ihn je wiedersehen?

      Emma riss sich los und machte sich wieder an die Arbeit. Sie tippte die wichtigsten Informationen in den Laptop. Jack war, wie sich herausgestellt hatte, ein Informatikprofi, fast schon ein kleines Genie. Seine Virtuosität ermöglichte ihnen,