A. C. Risi

PID - Tödliches Erbe


Скачать книгу

beiden Männer lasen die Antwort in Emmas Gesicht.

      „Na dann“, sagte Jack, „schlage ich vor, wir fangen ganz einfach mit der hier an.“ Er zog den Vierkantschlüssel aus der Hosentasche und probierte ihn an der Tür rechts von ihnen aus. Er passte. Die Tür schwang auf. Vor ihnen war nichts als Dunkelheit - keine Notbeleuchtung. Jack liess die Taschenlampe aufflammen. Der gelbliche Lichtstrahl drang tief in den Betonstollen hinein und verlor sich in der Ferne. Auf seiner linken Seite verlief ein gewaltiges, mannshohes Rohr die Wand entlang. Verschiedene kleinere Rohre und etliche graue Kästen säumten die rechte Wand des Stollens, so weit der Lichtstrahl reichte.

      Jack schritt mit der Taschenlampe voran. Die anderen folgten im Gänsemarsch. Sie hatten ungefähr zweihundertfünfzig Meter zurückgelegt, als sie schliesslich am Stollenende auf eine weitere Tür stiessen. Jack war schon fast wieder der Alte. Die Aussicht, schon bald heil hier rauszukommen, beflügelte seinen Charme. Gestenreich zückte er denselben Schlüssel hervor, drehte und wendete ihn wie ein Magier im Licht seiner Stablampe vor dem alles entscheidenden Trick.

      Rahul beendete das Theater. Er verpasste Jack mit seinem Ellbogen einen empfindlichen Knuff in die Rippen. „Jetzt mach schon!“

      Jack stülpte ihn über die Muffe. Er passte. „Na also, wir reiten auf einer Glückssträhne, ist zur Abwechslung mal was anderes.“ Er wollte gerade den Schlüssel drehen, als Rahuls Hand von hinten neben seinem Kopf vorbeischoss und laut gegen das Metall klatschte.

      „Spinnst du?!“, Jack machte einen erschrockenen Satz zur Seite. „Willst du, dass ich mich vor der Lady nass mache?“

      Emma grinste.

      „Seid mal still! Hört ihr das nicht?“ Rahul schob Jack vollends zur Seite und trat dichter an die Tür. Er presste sein Ohr gegen das Metall. Er konnte es jetzt ganz deutlich hören. „Es hört sich nicht nach Wasser an“, sagte er, „aber was es auch ist, es verursacht mir eine Gänsehaut. Spürt ihr die Vibration?“

      Emma und Jack hielten den Atem an. Auch sie hörten es, oder besser, fühlten es. Ein Bass, aber mit gleichbleibendem Rhythmus.

      Jack sagte: „Ich mache jetzt auf. Wir kommen nicht darum herum, wenn wir hier raus wollen, müssen wir das Risiko eingehen. Was meint unsere Frau Architektin?“

      „Ich weiss nicht. Wenn das nicht der Versorgungstunnel ist …? Allerdings ist mir vorhin schon aufgefallen, dass etwas nicht stimmen kann. Ich vermisse die Steigung. Wir sind aber nur geradeaus gegangen.“

      Jack starrte sie weiterhin an. „Und?“ Er wartete noch immer auf ihr Okay.

      „Ja“, sagte Emma und nickte. „Mach auf, Wasser kann's nicht sein. Dafür sind wir zu hoch.“

      „Also, seid ihr bereit? Ich öffne jetzt diese Tür – komme, was wolle.“ Jack drehte den klobigen Schlüssel gegen den Uhrzeigersinn. Rahul und Emma schauten ihm dabei zu – und hielten den Atem an.

      ***

      Der Ausblick vom Wohnzimmerfenster bot unbegrenzte Sicht auf den Zürichsee und die fernen Gipfel der dahinterliegenden Bergkette.

      Der Mann stand als reglose Silhouette hinter der geschlossenen Glasfront und starrte in Gedanken versunken durch das weisse Glas hinaus in den warmen Regen. Wassertropfen brachten die blaugraue, vom Wind aufgeraute Oberfläche des Sees zusätzlich zum Kochen. Kräuselnde Wellenlinien trafen am Ufer auf lange schlanke Halme wiegenden Schilfs und bildeten kleine quirlige Wirbel, die sich gierig über das grasbewachsene Ufergelände hermachten.

      Der Regen hatte etwas nachgelassen – aber die dichten schwarzen Wolken formierten sich bereits neu und versprachen nichts Gutes.

      Der Mann kehrte der Natur den Rücken, stattdessen liebkoste er nun mit den Augen die präzise Reproduktion eines Gemäldes von Salvador Dalí. Das Bild Les roses sanglantes, ein Werk des Künstlers aus den Dreissigerjahren, stellt das Bildnis einer Frau mit abgewandtem Kopf dar, deren Unterleib, mit Rosenblüten übersät, sich wie Blut über ihre Schenkel ergiesst. Wann immer er das Gemälde betrachtete, überwältigten ihn die unterschiedlichsten Gefühle. Er hatte das Bild in einem Kunstband über das Leben und Wirken des Künstlers entdeckt. Als er es zum ersten Mal sah, war ihm sofort klar gewesen, dass er es besitzen musste. Etwas an dem Bild hatte ihn zutiefst berührt. Etwas, das ihn niemals vergessen liess, was geschehen war.

      Aber das Gemälde blieb unerreichbar für ihn. Es lag nicht am Geld. Das Problem war andersartig. Das Gemälde war Teil einer Privatsammlung in Genf. Die Leute, denen es gehörte, dachten nicht daran, es zu veräussern. Immerhin hatte man ihm gestattet, eine Reproduktion anfertigen zu lassen, und diese - fünfundsiebzig Mal vierundsechzig Zentimeter grosse - originalgetreue Kopie hing nun vor ihm.

      Er fühlte sich müde. Seine Stimmung entsprach der tristen Atmosphäre ausserhalb seines puristisch eingerichteten Wohnzimmers. Aber diese Stimmung konnte ebenso schnell auch wieder umschlagen. Er verglich sein Innerstes gerne mit dem Äusseren eines Chamäleons. Nach aussen war ihm nichts anzumerken, denn er hatte sich eine prächtige Fassade aufgebaut, eine Maske, die ihn schützte. Tatsächlich gab es aber ein paar wenige Menschen, die über ihn Bescheid wussten, über ihn, seine unberechenbaren Ausbrüche, und sie kannten seine Vergangenheit. Um diese wenigen kümmerte er sich bereits.

      Auch sein Haus gab nichts von seinem Besitzer preis. Der weitläufige Raum beherbergte nur ein paar wenige, ganz exquisite Möbelstücke, die aber, jedes für sich genommen - natürlich am perfekten Platz -, die ganze Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zogen. Obwohl alle Zimmer im Haus zum Wasser hin ausgerichtet waren, blieb das Wohnzimmer der zentrale Punkt, der eigentliche Magnet des Hauses. Die hohen, absichtlich trist gehaltenen Betonwände standen in starkem Kontrast zur farbigen Natur hinter den gewaltigen Glasfronten. Der Raum selbst wirkte kühl, doch in Symbiose mit der atmenden Natur wurde er zu einem Ort der Besinnlichkeit. Hier gelang es ihm immer wieder, seine angestauten Aggressionen abzubauen. Den Hass nicht zu fühlen. Wenn auch nur für kurze Zeit.

      Er riss sich von dem Anblick des Bildes los und trat an den gewaltigen Eichentisch mitten im Raum, einem knorrigen Stück Holz, im Alter erstarrt und nun hart und glänzend wie Stein. Auf seiner glatten Oberfläche lag ein Foto. Er griff danach. Gelassen betrachtete er die Momentaufnahme des alten Mannes.

      „Du bist der Nächste“, flüsterte er. Der Hauch seines Atems überzog die matt kolorierte Oberfläche des Bildes. Niemand war da, der ihn belauschte, dennoch führte er seinen Monolog leise.

      Mit einem verächtlichen Schnippen der Finger beförderte er die Aufnahme zurück auf den Tisch. Er brauchte das Bild nicht länger. Das Gesicht darauf hatte sich ihm längst eingeprägt und glühte nun hell in seinem genialen Hirn; dort würde es brennen, so lange brennen, bis er seinen Auftrag erledigt hatte. Die alten Männer verdienten zu sterben, denn sie hatten kläglich versagt, und er sorgte dafür, dass sie bezahlten. Sie alle. Er war fast am Ziel.

      Es war die Gier nach Macht, Geld und Anerkennung, die sie getrieben hatte. Sie hatten Gottes höchste Schöpfung geschändet, dem Wesen der Natur zuwidergehandelt. Ihre blasphemische Schöpfung, aber auch die Übeltäter selbst mussten vollständig ausgemerzt werden und er war der Auserwählte, der diese Gotteslästerung ein für allemal ungeschehen machen würde.

      ***

      Jack riss den Kopf zurück, pfiff, weil er überrascht war. Stechender Abgasgestank prallte ihm entgegen und frass sich wie dampfende Säure durch die empfindlichen Schleimhäute seiner Nase.

      Emma beugte sich vor, schielte vorsichtig über Jacks Schulter hinweg. Ihre Augen saugten die Monstrosität dieses Nichts in sich auf, versuchten vergeblich zu erfassen, was sie da sah; ein gigantischer, leerer Raum. Ein Nichts, das sich in alle Richtungen ausdehnte und ihr ein sehr, sehr ungutes Gefühl vermittelte. Sie stand in der gewölbten Wand des grössten Silos, das sie je zu Gesicht bekommen hatte - eine Ameise im Innern eines hohlen Baumstammes.

      Ein metallener Steg führte in luftiger Höhe waagrecht in die Leere hinein. Rahul, der etwas seitlich hinter Emma stand, drängte ungeduldig nach. Dabei schob er sie vor sich her auf den Gittersteg hinaus. Das