A. C. Risi

PID - Tödliches Erbe


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klingt logisch“, sagte Rahul. Ausserdem, wenn wir mit den verschlossenen Türen zu viel Zeit verlieren, während wir uns von oben nach unten vorarbeiten müssen, kommen wir womöglich nicht mehr rechtzeitig an die unteren Stockwerke heran. Das Wasser steigt noch immer. Wir müssen wieder runter!“

      Jack warf einen Blick über das Geländer und folgte dem Lichtstrahl der Stablampe in die Tiefe. Der Schein traf auf unruhigen Grund. Da unten lauerte der gurgelnde, nasse Tod; wartete nur auf die Gelegenheit. „Und wir haben wirklich keine andere Wahl?“

      Emma schüttelte den Kopf.

      „Dann aber gleich“, sagte er und setzte sich in Bewegung.

      Emma folgte ihm. Rahul bildete den Schluss. Sie versuchten sich an allen Türen, doch erst im dritten Untergeschoss hatten sie unverhofft Glück; eine der Türen gab nach. Während Jack neugierig mit der Taschenlampe den langen Korridor hinter der Tür ausleuchtete, beobachtete Rahul im Treppenhaus beunruhigt, wie schnell der Wasserpegel anstieg. Dass sie vom dem Sicherheitsraum losgegangen waren, lag höchstens eine halbe Stunde zurück. In der Zwischenzeit war das Wasser aber bis zum zweiten Untergeschoss angestiegen. Alles, was unter der Trasse der Autobahnröhren lag - also die beiden zusätzlichen Stockwerke darunter -, war überflutet. Das Wasser schoss jetzt immer schneller durch die offene Tür des Vorraums ins Treppenhaus, konnte aber nicht mehr ablaufen. Von der Tür zur Oströhre des Tunnels, durch die sie sich in den Schutzraum gerettet hatten, war nicht mehr viel zu sehen.

      „Ich muss da nochmals runter“, sagte er und war auch schon weg.

      „Was tust du denn da?“, rief Emma. Für sich dachte sie, ich drehe gleich durch. Die beiden Typen sind nicht ganz dicht. „Komm zurück!“, versuchte sie es noch mal, aber Rahul stieg unbeirrt weiter die Treppe hinunter.

      „Ich muss die Tür schliessen.“

      Jack machte Anstalten, seinem Freund zu folgen. Emma trat ihm entschlossen in den Weg. „Seid ihr jetzt beide verrückt geworden? Wir können hier rein“, sie wies auf die offene Tür.

      Jack schob sie zur Seite, ignorierte ihre Proteste. „Rahul weiss schon, was er tut. Er verschafft uns nur mehr Zeit. Zeit, die wir dringend gebrauchen können. Die Tür zum Vorraum muss geschlossen werden.“

      Emma gab auf. Sie schlüpfte aus Rahuls Jacke und legte sie über das Geländer. Dann folgte sie den beiden die Treppe hinunter ins eisige, brusttiefe Wasser. Jack mit seinen eins neunzig kam noch am besten voran. Er und Rahul zogen mit aller Kraft an der Bunkertür, kämpften gegen die Schwerelosigkeit im Wasser an.

      „Seid ihr sicher, dass das eine gute Idee ist?“

      „Ich weiss nicht, ob die Idee gut ist“, antwortete Rahul unter Keuchen, „aber ich kann dir prophezeien, was passiert, wenn wir das jetzt nicht tun.“ Er wies in den Sicherheitsraum. Das, was von der Tür über der Wassergrenze noch zu sehen war, liess nichts Gutes ahnen. Sie war stark verzogen.

      „Du hattest vermutlich recht mit deiner Theorie: Die Trümmer verhindern, dass das Wasser abfliesst. Der Druck in der Röhre steigt dadurch weiter an. Wenn die Tür da draussen nachgibt – und das wird sie –, hält uns diese hier wenigstens das Wasser aus dem Tunnel fern.“

      „Okay.“ Emma reichte das Wasser schon bis ans Kinn. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen.

      Vereint stemmten sie sich erneut gegen die Tür. Jack bot vollen Körpereinsatz, seine Oberarmmuskulatur brannte wie Feuer, dennoch liess sich die Tür nicht mehr schliessen. „Das war's dann, verschwinden wir von hier.“

      ***

      Keiner von den dreien hatte auch nur einen Moment daran gezweifelt, dass das Schlimmste hinter ihnen lag, als sie den Sicherheitsraum erreicht hatten. Wie man sich doch täuschen konnte. Wasser hatte offenbar die schlechte Angewohnheit, sich nicht an gängige Regeln zu halten. Sie hatten das verheerende Ausmass und die zerstörerische Kraft der Katastrophe unterschätzt - das Schreckensszenario war immer noch Wirklichkeit.

      „Was zum Teufel …?“ Rahul blickte verwirrt um sich. Hunderte Kisten und Kartons stapelten sich an den farbigen Wänden entlang des Korridors bis unter die Decke. Der lange Flur und auch die seitlich abgehenden Räume waren vollgestopft mit Material. Bettgestelle, wo man auch hinsah – die meisten zerlegt, noch in der Originalverpackung.

      „Denk an die vielen Menschen“, sagte Emma. „Pritschen und Trennwände für zwanzigtausend Leute - die mussten auf die verschiedenen Stockwerke verteilt werden. Die Deckenkonstruktionen hätten dem Gewicht sonst nicht standgehalten.“

      Jack riss die Ecke eines der Kartons auf, griff hinein und holte eine fünf Kilogramm schwere Konserve heraus. Überlebensnahrung, stand auf dem nichtssagenden weissen Etikett. „Wenigstens verhungern werden wir hier unten nicht.“

      „Ich bezweifle, dass dir das schmecken würde.“ Emma zwängte sich an einem Stapel Kisten vorbei und öffnete die nächste Tür.

      „Wenn du dich da mal nur nicht täuschst.“ Rahul grinste und linste ihr über die Schulter. „Ist das ein Operationssaal?“, rief er überrascht.

      „Ja, und das bedeutet, wir sind im Sanitätstrakt. Dieser Bereich ist in zwei Stockwerke aufgeteilt. Demnach müsste am Ende des Flurs ein Bettenaufzug sein.“ Darauf steuerte sie zu.

      Emma drückte auf den Knopf. Der Aufzug setzte sich ächzend und unter lautem Rumpeln in Bewegung.

      „Können wir es wirklich wagen, uns diesem antiken Ding anzuvertrauen?“ Rahuls klang besorgt. Ihm behagte der Gedanke gar nicht, in eine mit Notstrom betriebene Kiste zu steigen, während ihnen das Wasser von unten folgte.

      Die Türen glitten auf, begleitet von dem Geräusch eines verrosteten Sägeblattes.

      Rahul zögerte noch. In diesem Moment hörten sie den Knall. Ihre Köpfe flogen herum. Drei Augenpaare starrten den Korridor entlang zum Eingang ins Treppenhaus.

      „Die Türen sind geborsten. Rein mit euch!“, befahl Jack. „Jetzt gibt es kein Zurück mehr.“

      Rahul hielt die Luft an, als sich der Aufzug langsam in Bewegung setzte, und atmete erst wieder aus, als der Lift ein Stockwerk höher anhielt.

      Die Türen glitten zur Seite.

      Emma trat als Erste auf den Flur hinaus. Der gleiche lange Flur, das gleiche Chaos. Hatte der Lift sich überhaupt bewegt?

      „Hier! Seht mal!“ Jacks Ruf riss sie aus ihrer Erstarrung. Neben dem Aufzug ging ein zweiter, kurzer Flur ab.

      Emma atmete erleichtert auf. Auf ihrem Gesicht erschien ein befreites Grinsen. „Und da ist auch die Schleuse zum Materialtunnel. Der einzige Zugang von aussen in die Kaverne.“

      Jack entriegelte die Schleusentür. Vor ihnen erstreckte sich der nach oben ansteigende, schon ziemlich marode Betriebsstollen. Da, wo der Beton ausgebrochen war, tropfte Wasser von der Decke und benetzte ihre ungeschützten Köpfe. Erschöpft, aber erleichtert rannten sie den halbrunden, ungefähr drei Meter breiten und ebenso hohen Tunnel hoch. Die rauen felsigen Wände waren übersät mit aufgemalten gelben Strichen; aufgeteilt in jeweils vier Senkrechte und eine Diagonale.

      „Haben die hier drin Karten gespielt? Wie viele sind das wohl?“, fragte Jack.

      „Zwanzigtausend.“ Emma zitterte vor Kälte. Die Kleider klebten ihr nass und klamm am Körper. Sie versuchte nicht mit den Zähnen zu klappern, aber es war zwecklos. So kurz vor dem Ziel fiel ihre Abwehr in sich zusammen.

      „Oh, verstehe! Sie haben Symbolcharakter.“

      „Du bist ja ein ganz Schlauer!“

      „Genau.“ Jack legte ihr, während sie weiter den Stollen hocheilten, einen Arm um die Schulter und zog sie an sich. „Gott, du schlotterst ja richtig.“ Er rieb ihr mit der Handfläche wärmend den Oberarm, bis das unkontrollierte Zittern etwas nachliess.

      Emma spürte, dass Rahul sie beide beobachtete.

      Nach ungefähr dreihundert Metern hatten