A. C. Risi

PID - Tödliches Erbe


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vor, hier unten eingesperrt – zusammen mit neunzehntausendneunhundertneunundneunzig total verängstigten Leuten, plärrenden Kindern, sabbernden Alten und Kranken, die alle langsam, aber sicher durchzudrehen beginnen, weil nämlich keiner mehr an ein Morgen danach glaubt. Was bleibt auch schon übrig, nachdem eine 1-MT-Atombombe im Umkreis eines Kilometers aufgeschlagen ist.“ Er schüttelte sich.

      Emma sog hörbar Luft ein. „Da bekomme sogar ich eine Gänsehaut. Dennoch, die Regierung muss damals offensichtlich an den Erfolg geglaubt haben, sonst hätten sie wohl kaum, sage und schreibe, fast vierzig Millionen Franken für das Projekt lockergemacht.“

      „Ich versteh das nicht. Die Tunnels sind doch nach beiden Seiten hin offen. Sie zu verbarrikadieren, hätte im Bedarfsfall doch bestimmt viel zu lange gedauert?“

      „Es sind Tore vorhanden“, antwortete Jack seinem Freund. „Wir sind daran vorbeigefahren. Man kann einen Teil von ihnen sehen. Sie bestehen aus anderthalb Meter dickem Beton und stehen auf speziell angefertigten Führungsschienen. Jedes dieser monströsen Dinger ist rund dreihundertfünfzigtausend Kilogramm schwer. Sie lassen sich hermetisch verschliessen, obwohl … ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob das jemals erfolgreich getestet wurde.“

      „Wow!“ Rahul schien beeindruckt. „Aber was dann? Wenn die Tore erst mal geschlossen sind, wie gelangen die Leute hinein. Ausserdem, das dauert doch alles seine Zeit?“

      „Ja“, bestätigte Emma, „Deshalb war vorgesehen, die Menschen durch die seitlichen Schleusen einzulassen und dabei auch gleich zu kontrollieren. Die Bevölkerung hatte genaue Anweisungen zu befolgen. Jede Familie hortete zu diesem Zweck zu Hause die notwendigen Mitbringsel. Es gab eine genaue Auflistung darüber, was jeder bei sich tragen durfte.“

      „Das ist unglaublich.“

      „Ja, vor allem, weil wir jetzt selbst in genau einer solchen Situation festsitzen. Durch die Tunnels kommen wir nicht mehr raus, aber auch nicht durch die seitlichen Sicherheitsschleusen.“

      Rahul schüttelte ungläubig den Kopf „Etwas verrückt seid ihr schon, ihr Schweizer: Es stimmt also doch“, grinste er, „ihr bohrt mehr Löcher in eure Berge als in euren Käse.“

      Jack nickte. „Zweimal ja, aber damit sind wir auch schon wieder am Anfang. Also, wenn wir uns wirklich auf den Vorschlag der Lady einlassen, wartet auf uns ein unterirdisches Labyrinth mit unglaublichen Ausmassen. Kilometerlange Flure und Gänge und keiner von uns kennt den Weg.“ Jack kratzte sich am Hinterkopf. „Kann jemand meine Skepsis nachvollziehen?“

      „So schlimm ist es gar nicht“, widersprach Emma „Was kann schon passieren, wir gehen einfach systematisch vor – Etage für Etage.“

      Jack sträubte sich noch immer. Er war nach wie vor nicht überzeugt, dass diese Möglichkeit die richtige war. „Wir sollten warten.“ Emma wollte insistieren, doch Jack hob hastig einen Finger und sie verstummte. „Woher hast du eigentlich all diese Informationen?“ Sie steckten hier drin fest, auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, persönlicher ging es gar nicht. Wozu da noch so was wie eine förmliche Anrede.

      „Wie es der Zufall so will, hatte ich das Glück und die Gelegenheit, einen Blick auf die Pläne für den Rückbau dieser Anlage zu werfen. Ein Freund beim Zivilschutz wollte meine Meinung dazu hören.“

      „Hört, hört.“ Jack tat beeindruckt. „Sie wollten also deine Meinung hören? Und wie qualifizierst du dich dafür?“

      „Durch meinen Beruf: Ich bin Architektin, ergo kenne ich mich mit Bauplänen aus“, antwortete Emma. „Also, wie schon gesagt, ich weiss sehr wohl, wovon ich rede. Ich kann uns hier rausbringen.“

      Rahul kehrte den beiden den Rücken zu. Vielleicht war es besser, er verschaffte sich einen eigenen Überblick. So kompliziert konnte das schliesslich nicht sein, es standen ja nur zwei Türen zur Auswahl. Die Hand bereits am kalten Türgriff, rissen ihn Emma und Jack nach hinten.

      „Nein – nicht!“ Ausnahmsweise waren sich beide einig.

      „Willst du uns alle umbringen?!“, rief Jack.

      Emma war ganz blass geworden, aber Rahul verzog nur verwirrt das Gesicht.

      „Was soll die Panik? Ich wollte nur mal einen Blick hinter die Tür werfen.“

      „Sorry Kumpel, aber das wäre total danebengegangen. Falsche Tür. Die führt geradewegs in die Weströhre des Tunnels.“

      „Na dann, wenn nicht diese Tür, dann eben die andere.“

      „Ich bin immer noch dafür, dass wir hier auf Hilfe warten“, wandte Jack ein. „Wir könnten abstimmen.“

      Etwas Schweres knallte gegen die Tür zur Oströhre und liess alle drei herumfahren. Etwas Schweres hatte dem rot glänzenden Metall einen Riss verpasst. Durch ihn drang Wasser. Auf den Fussboden. Er stand binnen Minuten unter Wasser. Noch waren es wenige Zentimeter. Aber das Wasser hörte nicht auf zu fliessen.

      Jack trat vorsichtig an die Tür, mit den Fingern prüfte er den Riss im Metall. „Was zum Teufel war das?“

      „Etwas, das vermutlich jederzeit wieder passieren kann“, erwiderte Rahul und starrte auf seine Schuhe, durch deren Nähte bereits das Wasser eindrang. „Ich nehme mal an, dein Vorschlag für eine Abstimmung erübrigt sich damit.“

      „Jack, dein Freund hat recht. Das Wasser ist immer noch in Bewegung - du weisst, was das bedeutet?“

      Jack fuhr sich nervös durchs Haar. „Hmm, der Druck wird nicht nachlassen.“

      „Genau! Und das bedeutet, wir müssen hier weg, und das so schnell wie möglich.“

      „Vermutlich haben wir tatsächlich keine andere Wahl, wenn wir nicht wie die Ratten ersaufen wollen.“

      „Wir werden uns einen Rückzugsplan zurechtlegen“, sagte Emma, „wenn wir uns daran halten, kann nichts schiefgehen.“ Sie überlegte „Im Moment stecken wir noch zwischen den beiden Autobahnröhren fest, befinden uns dadurch aber auch bereits in der Kaverne selbst. Das unterirdische Gebäude ist sieben Stockwerke hoch. Ich schätze, unter uns sind noch ein oder zwei Etagen.“

      „Du schätzt …?“, wiederholte Jack.

      „Ja, muss ich. Ich erinnere mich natürlich nicht mehr so genau an jedes Detail“, sagte Emma, „aber das ist auch gar nicht so wichtig.“ Emma vergegenwärtigte sich den Bericht, den sie bei einer Besprechung mit der Stadtverwaltung im vergangenen Jahr gesehen hatte. „Wir müssen es nur rechtzeitig zum Materialtunnel schaffen; dem einzigen gangbaren Weg nach draussen. Die Chancen, ihn rechtzeitig zu finden, stehen gut.“

      „Ich höre immer nur ,rechtzeitig'.“ Rahul hob einen Fuss aus dem Wasser, er war bereits nass bis zu den Knöcheln.

      „Okay, dann lasst uns mal von hier verschwinden“, sagte Jack. „Es führt ja nur eine Tür in die Anlage rein, und zwar diese da. Ist wie bei einem Quiz“, Jack grinste. „Man benutze einfach das Ausschlussverfahren.“ Jack zog an dem langen Eisengriff. „Ist aber leider verschlossen.“

      „Wir brauchen etwas, um sie aufzuhebeln.“ Rahul blickte sich suchend um. „Lagen da vorhin nicht ein paar Eisenstangen auf dem Boden?“ Mit dem Fuss im schmutzigen Wasser wurde er fündig. Er griff mit der gesunden Hand nach unten und zog ein Flacheisen aus der öligen Brühe, und nicht nur eines. Er hielt beide Jack entgegen, der sie prüfend in der Hand wog.

      „Gut, versuchen wir es! Mit ein wenig Glück bekommen wir sie auf.“

      4

      Die Temperatur in dem schmalen kleinen Schutzraum zwischen der Ost- und Weströhre des Autobahntunnels war mittlerweile unter sechzehn Grad gefallen und sank unerbittlich. Die Kälte drang durch ihre nassen Kleider und biss sie in die unterkühlte Haut, während das unaufhörlich eintretende Wasser sein Übriges tat, um den Schutzraum in ein nasses, kaltes Grab zu verwandeln.