A. C. Risi

PID - Tödliches Erbe


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fährst du nicht über die Seebrücke, wenn du Richtung Basel willst?“, fragte er, als Jack auf die Strasse nach Kriens einbog.

      „Keine Chance. Du hast keine Vorstellung davon, was da drüben los ist“, erklärte ihm Jack. „Die halbe Stadt steht unter Wasser. Das Luzern, wie du es kennst, gibt es nicht mehr, wenigstens für die nächste Zeit. Das Reussufer und das gesamte Ufergelände entlang dem Seebecken, die Strassen – alles weg. Da drüben sieht es aus, als ob sich einer an einer Zeitmaschine versucht hätte. Der See hatte sich seine ursprüngliche Form zurückerobert, es ist, als wäre man unvermittelt ins Luzern um das 16. Jahrhundert zurückversetzt worden.“

      „Was ist mit den Leuten, die da wohnen, wie kommen die damit klar?“

      „Provisorische Holzstege. Das Militär hat sie angelegt. Aber du solltest die Gestalten mal sehen, die wandeln auf den Dingern, als stünden sie unter Drogen. Jedenfalls, der einzige Weg für uns, ist die Umfahrung.“

      Jack bog in die Auffahrt zur Autobahn. Der Regen schien kein Ende zu nehmen. Überall war Wasser. Wasser, wohin das Auge reichte. Auf dem erhöhten Strassenbelag der Autobahn sammelte es sich zu gefährlichen, unüberschaubaren Seen und die Sicht betrug gerade mal ein paar Meter. Beide atmeten befreit auf, als sie endlich die Tunneleinfahrt passierten und das laute Trommeln des Wassers auf dem Wagendach abrupt erstarb.

      Die doppelspurige Röhre bot mehrfachen Schutz vor dem garstigen Wetter. Aber das Gefühl der Sicherheit war trügerisch. Kaum waren die beiden Männer dem Regen entronnen, beschlugen die Scheiben des Jeeps und die Sicht wurde noch schlechter als zuvor.

      Jack wischte mit dem Ärmel seiner Jacke über die Innenseite der Frontscheibe. Ein schmaler, lichter Streifen bot aber nur kurzzeitig etwas mehr Sicht.

      „Gütiger Gott. Stell endlich die Lüftung an, man kann ja kaum noch etwas erkennen!“ Rahul warf Jack einen hektischen Blick zu, doch der reagierte nicht einmal, also legte er selbst Hand an. Er drehte und schraubte an den wenigen Armaturen herum, ohne dass etwas geschah. Ein Knopf brach ab.

      „Vergiss es!“, meinte Jack. „Deine Anstrengungen sind zwecklos. Die Lüftung hat ihren Geist längst aufgegeben, lange bevor ich dieses Bijou erworben habe. Aber keine Bange, wir kommen schon heil da durch.“

      „Ein Traktor hat mehr Komfort als diese alte Karre!“, schimpfte Rahul und liess das abgebrochene Teil unbemerkt in seiner Jackentasche verschwinden. Er begann sich ernsthaft Sorgen zu machen. Wo zum Teufel war der sprichwörtliche Schweizer Perfektionismus geblieben.

      3

      Der Wind frischte wieder auf. Neue Sturmböen fegten über den nass glänzenden Asphalt, der Regen trommelte jetzt seitlich gegen die schwarze Lackierung des Wagens. Der BMW reagierte wie ein bockendes Pferd. Emma musste kräftig gegensteuern, um nicht von der Fahrbahn gefegt zu werden, und es kostete sie einige Mühe, den Wagen auf einer Linie zu halten.

      Auf der lang gezogenen Kurve zur Autobahn hoch verloren die breiten Pininfarina-Reifen in einer der wassergefüllten Fahrspurrillen kurz die Bodenhaftung. Der Wagen drohte erneut auszubrechen, Emma schaffte es gerade noch so auf sicheren Grund, doch die Sicht war inzwischen gleich null. Als Orientierungshilfe blieb ihr nur noch die seitliche Markierungslinie entlang der Strasse. Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren, doch gegen die allgewaltigen Wassermassen richteten sie nicht mehr aus als ein Staubtuch in der Wüste. Etwas Derartiges hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht erlebt. Die Welt um sie herum war im Begriff, sich in eine konturlose Masse aufzulösen.

      Der Wagen schoss auf die überdachte Einfahrt des Sonnenbergtunnels zu. Die plötzliche Stille, als der Wagen in die eins Komma fünf Kilometer lange Doppelröhre eintauchte, wirkte auf Emma unnatürlich, unlogisch, aber endlich konnte sie wieder klar sehen.

      Emma entspannte sich. Sie dachte über ihr neues Leben nach, dachte daran, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor – wenn sie es überhaupt schaffte, das Rätsel ihrer Herkunft zu lösen. Sie hatte ein halbes Jahr. Oberflächlich betrachtet, eine Menge Zeit, aber es wartete viel Arbeit auf sie - und sie hatte noch nicht mal einen Plan.

      Wo beginne ich am besten? Jeder Schritt musste weise vorausgeplant und dokumentiert werden. Ich brauche ein Konstrukt des voraussichtlichen zeitlichen Rahmens, dachte sie, und ich werde noch mehr Zeit darauf verwenden müssen, Fragen zu stellen, Hinweisen und Spuren nachzugehen. Diese Gedanken versetzten sie in eine beschwingte Stimmung. Die Haut an ihren Unterarmen prickelte, die Härchen darauf standen aufrecht wie die Stacheln eines Igels.

      Das einschiessende Adrenalin machte sie übermütig, ihr Fuss liebkoste das Gaspedal. Der Wagen beschleunigte mit einem kraftvollen Schnurren und die Nadel am Tachometer schoss so mühelos über das Tempolimit hinaus, dass sie es nicht mal wahrnahm. Emma drehte die Musik lauter; gemeinsam mit Freddy Mercury sang sie: „We are the Champions …”

      Das Licht im Tunnel ging aus; erst flackernd, dann war es ganz weg. Die plötzliche Dunkelheit liess die Tunnelwände bedrohlich eng zusammenrücken. Nichts, das Emma beunruhigt hätte, sie war nicht klaustrophobisch veranlagt. Trotzdem ging sie etwas vom Gas. Dieser verdammte Regen. Sie seufzte, dabei malte sie sich aus, wie ein zorniger Wettergott sich immer neue noch chaotischere Katastrophen ausdachte, um die ungehorsame Menschheit zu bestrafen. Diese Vorstellung lenkte sie einen Moment ab. Einen gefährlichen winzigen Augenblick.

      Am äusseren, zerfliessenden Rand ihres rechten Scheinwerfers tauchte ein hässlicher Schrotthaufen auf. Oh Gott! Das Ding fährt sogar noch? Emma traute ihren Augen nicht. Das rostzerfressene Chassis war derart verzogen, sie konnte alle vier Reifen sehen – nebeneinander.

      Der ohrenbetäubende Knall einer Fehlzündung liess sie erschrocken das Steuer zur Seite reissen. Der schwere Wagen vollführte einen bedenklichen Schlenker, fast hätte sie den hohen Randstein an der seitlichen Begrenzung gestreift.

      „Dämlicher Idiot!“, schrie sie ihre Frontscheibe an, als ihr der Wagen wieder gehorchte. Der Schreck sass ihr tief in den Knochen, das war gerade noch mal gut gegangen. „So eine Karre gehört verboten“, echauffierte sie sich. „Das ist unglaublich. Blödmann, du tickst doch nicht richtig.“

      Der Jeep wurde hässlicher, je näher sie auffuhr. Schon konnte sie den rostigen Auspuff erkennen, der, schwarzen Qualm hustend, bedrohlich locker auf und ab wippte. Der Gestank, der ihm entströmte, war bestialisch, aber noch schlimmer war dieses unheimliche Grollen, das die ganze Tunnelröhre durchdrang.

      Dieses hässliche Ding ist kein Auto, dachte sie, das ist eine tickende Zeitbombe auf Rädern. Emmas Finger betätigten die Umluft-Taste, doch dafür war es längst zu spät. Der widerliche Abgasgestank hatte sich bereits im ganzen Wagen ausgebreitet. Sie begann zu husten und eine Nanosekunde lang war sie abgelenkt.

      Der zweite falsche Augenblick.

      Die Rostschleuder legte eine Vollbremsung hin. Emmas Fuss schnellte vor aufs Bremspedal, das Bein steif durchgestreckt; ein eingeübter Reflex. Trotz des furchterregenden Ratterns des ABS liess sie den Fuss da, wo er war. Die Reifen griffen wieder, doch das wild schlingernde Heck des Jeeps war bereits zu nah, und jetzt brach es auch noch zur Seite aus.

      ***

      Jack und Rahul starrten dem diffusen Lichtfinger ihres einen, halb blinden Scheinwerfers hinterher, der sich schon nach ein paar wenigen Metern im Tunnelinnern verlor. Der zweite hatte sich gar nicht erst zum Dienst gemeldet.

      Jack kurbelte das beschlagene Seitenfenster herunter und streckte den Kopf hinaus. Lautes Donnern und Getöse erfüllte die Luft im Tunnel. Er war etwas verwirrt.

      Das kann unmöglich mein Wagen sein, dachte er. Einerseits beruhigte ihn diese Erkenntnis, andererseits liess das unheimliche Grollen, egal woher es kam, auf nichts Gutes schliessen. Er wischte mit seinem Taschentuch ein kleines Loch in den Schmutz am Seitenspiegel. Ein Wagen schloss von hinten auf, ein BMW, schwarz. Das schnittige Fahrzeug rückte verdammt schnell auf.

      Rahul