A. C. Risi

PID - Tödliches Erbe


Скачать книгу

er liess nicht los.

      Die Frau löste sich von ihm und riss die Tür auf. Atemlos, gefangen in einem Rausch aus Angst, Faszination und Erschöpfung starrte sie ihren beiden Rettern entgegen, während Rahul seinen halb kriechenden Freund weiter in die Ausweichstelle auf die Tür zuzerrte, das Gesicht in einem stummen Schrei erstarrt.

      Sie packte wieder mit an. Jack spürte, wie sie keuchend an seinem Gürtel zerrte und Rahul verzweifelt an seinem Arm riss. Sie hievten ihn wie einen nassen Sack über die hohe Schwelle, durch die Tür und weiter in den schützenden Wartungsraum.

      Dann kam das Wasser. Mit einem gewagten Sprung über Jack hinweg brachte sich die junge Frau in allerletzter Sekunde in Sicherheit. Jack riss seine Beine an den Körper, keine Sekunde zu früh. Die schwere Tür wurde von der herantobenden Masse mit einem gewaltigen Knall zugeschlagen.

      ***

      Im Wartungsraum des Tunnels war die Stille abermalig unnatürlich. Rahul stand auf zittrigen Beinen vornübergebeugt an einer der gelb gestrichenen Wände und versuchte keuchend zu Atem zu kommen. Während ihm Tränen über das Gesicht liefen. Er hielt das verletzte Handgelenk eng an den Körper gepresst.

      Jack lag noch immer auf dem Boden. Er fasste es nicht, dass sie es doch noch geschafft hatten.

      „Danke, Kumpel!“ Seine Stimme war nicht mehr als ein leises Krächzen. Mehr brachte er im Moment nicht über die Lippen. Sein Brustkorb hob und senkte sich in gierigen Atemzügen.

      „Touché!“, entgegnete Rahul. „Wäre ich in die andere Richtung gerannt, hätten wir es nicht geschafft!"

      Jack schwieg. Statt zu antworten, versuchte er auf die Beine zu kommen, fiel aber gleich wieder erschöpft zurück.

      Rahul stiess sich mit einem Fuss von der Wand ab und streckte Jack seine Hand hin.

      „Ist das auch die richtige?“, fragte Jack.

      Rahul verzog das Gesicht. „Garantiert! Darauf kannst du Gift nehmen, so ein Fehler unterläuft niemandem ein zweites Mal.“ Mit einem kurzen Ruck zog er seinen Freund auf die Füsse.

      Fast gleichzeitig blickten sie auf die zusammengekauerte Gestalt hinunter, die erschöpft auf dem schmutzig grauen Betonfussboden hockte, die Beine mit den Armen schützend an den Körper gezogen. Langsam hob sie den Kopf. Wirre Strähnen halblangen Haares klebten ihr nass im Gesicht. Das fahle, gelbliche Licht der Notbeleuchtung verlieh ihren Gesichtszügen eine gespenstig blasse Aura. Sie öffnete die Augen; sie waren grün und sie leuchteten wie Smaragde.

      Jack streckte ihr seine Hand hin. Zögernd griff sie danach und liess zu, dass er sie auf die Füsse zog. Offenbar steckte noch immer viel zu viel Kraft in ihm, oder sie war leicht wie eine Feder, denn sie prallte direkt an seine Brust. Für Sekunden umfing er sie schützend mit den Armen, während sie taumelnd nach Halt suchte. Sein Herz pochte laut. Ihre Nähe betörte und verwirrte ihn zugleich.

      Emma wand sich in seinen Armen, gleich einem Jungvogel, der es satthatte, noch länger in Mamas Nest auszuharren. Als Jack nicht reagierte, legte sie ihren Kopf in den Nacken und blickte zu dem blonden Hünen hoch. „Sie können jetzt loslassen“, sagte sie.

      „Oh, tut mir leid …“ Jack räusperte sich verlegen, öffnete aber - wenn auch widerstrebend - die sachte Umklammerung und trat einen Schritt zurück. Entschuldigend hob er die Hände. „Mein Fehler.“

      Er stand da und glotzte, wie ein kleiner Junge vor dem Goldfischglas. „Jack Gold“, stellte er sich vor. Seine Stimme klang unsicher, ganz ohne die gewohnt selbstsichere Lässigkeit. „Und dieser Gentleman da drüben“, er zeigte mit dem Finger auf den zweiten Mann im Raum, „ist Rahul Kahn.“

      Emma wandte sich Rahul zu. Entschuldigend ergriff dieser ihre Hand mit seiner Linken. Emmas Lippen umspielte ein leises Lächeln, wobei sich ihr rechter Mundwinkel leicht kräuselnd nach unten zog. Das leicht schiefe Grinsen machte deutlich, wie nervös sie war.

      „Tut bestimmt weh?“ Sie starrte auf Rahuls Hand. Eigentlich war es keine Frage, eher eine mitfühlende Feststellung. „Ich bin Emma. Emma Schäfer“ – und nach einer kurzen Pause, „Danke! Wärt ihr nicht gewesen, stünde ich jetzt vermutlich nicht hier.“ Alle drei warfen einen stummen Blick auf die geschlossene Tür, hinter der sich die todbringende Lawine aus Wasser, Geröll und Menschenfleisch durch den Tunnel bewegte. „Danke!“, sagte sie nochmals.

      „Keine Ursache“, entgegnete Rahul, „wir haben uns gegenseitig geholfen.“ Er hielt das schmerzende Handgelenk hoch. „Hätten Sie nicht so fix reagiert und die Tür aufgehalten, wäre wohl keiner von uns dreien mit dem Leben davongekommen.“

      Emma nickte. „Wir hatten Glück und wir sollten die Gunst der Stunde nutzen. Sehen wir zu, dass wir von hier wegkommen.“ Sie zog schaudernd die Schultern hoch. Sie fror; ihre Kleider waren klitschnass.

      Rahul zog seine Jacke aus. „Hier, nehmen Sie die, ich brauche sie nicht.“

      „Danke!“ Emma zog ihre eigene zerrissene Jacke aus und schlüpfte in die von Rahul. Sie zog sie eng an den Körper. Das Leder war feucht, aber das Innenfutter trocken und warm von seinem Körper. Sie fühlte sich gleich viel besser.

      Jack presste sein Ohr auf den kalten Stahl der Tür zur Tunnelröhre. Dumpfes Grollen drang durch den dicken Stahl. „Wir können aber auch hier bleiben, bis Hilfe eintrifft“, schlug Jack vor, „oder wir warten einfach, bis das Wasser aus dem Tunnel abgeflossen ist, und befreien uns dann selbst.“

      „Auf beides würde ich mich nicht verlassen“, sagte Emma. „Das kann ewig dauern, bis Rettung hier ist. Die sind garantiert überfordert. Die Feuerwehrleute sind seit Tagen ununterbrochen im Einsatz. Ausserdem werden sie sich erst mal um die Verletzten im Tunnel kümmern, an die sie rankommen, soweit sie überhaupt schon etwas ausrichten können. Und was das Wasser betrifft …“ Emma stockte. „Wie soll ich es sagen? Es ist nur schwer abzuschätzen, wie viel da noch nachkommt.“

      Rahul hatte bis anhin geschwiegen und nur zugehört. „Und worin besteht Ihre Alternative? Gibt es überhaupt einen Weg hier raus, einen, der nicht durch den überfluteten Tunnel führt?“, wollte er von Emma wissen.

      „Ja“, antwortete Jack und kam Emma damit zuvor. „Aber den richtigen Weg zu finden dauert vermutlich länger, als einfach hier sitzen zu bleiben und auf Hilfe von aussen zu warten.“

      „Das kapier‘ ich nicht.“ Rahul drehte sich im Kreis. Der Raum war nicht gross. In jeder der drei gelben Wände befand sich eine Tür. „So wie ich das sehe, bleibt uns doch nur die Wahl zwischen zwei Türen. Was ist so schwierig daran?“

      „Der Schein trügt. Ihr Freund hat nicht ganz unrecht. Die Sache hat wirklich einen Haken.“

      „Und der wäre …?“

      „Hinter einer dieser beiden Türen verbirgt sich ein gewaltiges Labyrinth aus Gängen und Räumen. Um Ihnen das zu verdeutlichen – wir befinden uns in der ehemals grössten Atomschutzbunkeranlage Europas, vermutlich aber der grössten weltweit.“

      „Sie wollen mich auf den Arm nehmen?“

      „Ganz und gar nicht. Beim Bau der beiden atomgeschützten Autobahntunnels - also direkt hier, wo wir uns jetzt gerade befinden - wurde während des Kalten Krieges, zwischen 1970 und 1976, gleichzeitig auch diese Kaverne erstellt.“

      „Eine Kaverne?“

      „Ja“, wiederholte Emma, „eine Kaverne. Stellen Sie sich einfach ein Gebäude vor, das anstatt über unter der Erdoberfläche in die Tiefe gebaut wurde. Ein gewaltiges, siebenstöckiges, unterirdisches Haus. In diesem Haus befindet sich: eine Kommandozentrale, ein voll eingerichtetes Notspital inklusive Krankenzimmer, Operationssäle, Röntgenraum et cetera. Eine Radiostation, sowie Mehrzweck- und Nebenräume. Im Kriegsfall hätte die gesamte Anlage Schutzraum für sagenhafte zwanzigtausend Personen geboten, wobei die Bevölkerung in den beiden Tunnelröhren untergebracht worden wäre. Jede von ihnen fasst zehntausend Personen.“

      „Und jetzt nicht mehr?“, fragte Rahul

      „Na ja,