A. C. Risi

PID - Tödliches Erbe


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hermachte oder durch das Alter edler oder gar wertvoller geworden wäre. Er war einfach nur ein schäbiges Möbelstück, dessen Mief sie in die Nase stach.

      Sie musste nachdenken, also lehnte sie sich zurück. Da sass sie nun, in dieser Polizeistation auf den Höhen des Jura, wo ihr Leben - wie sie es kannte - seinen Anfang genommen hatte. Die Akten und Fotos über den Flugzeugabsturz lagen vor ihr auf dem Pult. Die alten Schwarz-Weiss-Bilder hatte sie bereits durchgesehen - ihre zerstörerische Deutlichkeit erschreckte sie. Waren die verkohlten Überreste tatsächlich Teil ihrer Vergangenheit?

      Sie seufzte. Klar, die Bilder waren schrecklich und die Vorstellung, was den Menschen, da passiert war, machte sie betroffen, doch darüber hinaus – kein Déjà-vu, nichts, das ihr einen hinreichenden Grund bot, weiterzumachen, und sie war sich doch so sicher gewesen …

      Emma blickte sich in dem kleinen Kabuff um. Es schimpfte sich auch heute noch grossartig Polizeistation. Ausser ihr war niemand zugegen, sie hockte allein hinter einer wackeligen halbhohen Trennwand, die den ohnehin winzigen Raum in zwei noch beengtere Teile schnitt. Es roch muffig, genau wie damals, durchsetzt mit dem abgestandenen Qualm unzähliger „Krummen“ - diesen dünnen, willkürlich gebogenen Zigarren. Der Geruch war allgegenwärtig. Er sass in der zerkratzten Oberfläche des Holztisches an der gegenüberliegenden Wand ebenso wie in der holzvertäfelten Decke und dem hässlichen Linoleumboden zu ihren Füssen.

      Emma lächelte in Erinnerung an all diese Eindrücke. Es war, als sei die Zeit inmitten dieses Raumes stehen geblieben, als hätte sich nichts geändert seit damals, als ihre Hände klein und die schmutzigen Fingernägel abgekaut in ihrem Schoss gelegen hatten. Mehr als einmal hatte sie auf der anderen Seite dieses Pults gesessen und nach einer plausiblen Ausrede gesucht. Sie hatte Dummheiten begangen.

      Seufzend schüttelte sie die alten Erinnerungen ab und wandte sich wieder den Fotos zu. Sie mühte sich wirklich ab, aber ihr Enthusiasmus, der sie bis hierher gebracht hatte, löste sich gerade in Luft auf. Sie rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.

      Was zum Kuckuck tue ich hier eigentlich? Sie hasste solche Momente der Ohnmacht. Sie war voller Hoffnung hierhergekommen, war sich so sicher gewesen, genau hier den entscheidenden Hinweis zu entdecken, und das, obwohl sie genau wusste, dass das, wonach sie suchte, in ihrem Kopf war. Die Bilder auf dem Tisch vor ihr hatten nichts ausgelöst, keine Erinnerung, lagen nur stumm da.

      Aber irgendetwas musste es geben.

      Das erste Foto war eine Nahaufnahme der Pilotenkanzel, oder dessen, was nach dem verheerenden Feuer davon übrig geblieben war. Schon bei der ersten oberflächlichen Durchsicht der Bilder war ihr klar geworden, was die Behörden zu der Annahme - niemand könne diese Feuerhölle überlebt haben - verleitet hatten. Vor ihr lag ein danteskes Inferno.

      Sie zog das nächste Bild heran. Obwohl sich die Trümmerteile schwer zueinander anordnen liessen, schaffte sie es dennoch mithilfe eines beiliegenden Berichts.

      Das Cockpit lag getrennt vom Rumpf etwas abseits und das verkohlte Gerippe der metallenen Fluggastkabine etliche Meter dahinter, zur Seite gekippt, auf verbrannter Erde.

      Bei dem, was sie sah, liess sie nur eine einzige Wahrheit zu: Diese Feuerhölle konnte niemand überlebt haben. Die Bilder sprachen für sich selbst. Wunder über Wunder wären nötig gewesen, einem Kind da rauszuhelfen. Es war unmöglich und dennoch … Die Hoffnung stirbt zuletzt.

      Bild für Bild nahm sie sich nochmals vor, nochmals und nochmals.

      Und da: Auf einem der Bilder fiel ihr die lange Schneise aufgeworfener Erde auf, die sich hinter dem Wrack tief durch das kurze Gras der Weide zog.

       Was hat das zu bedeuten?

      Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Das Flugzeug ist nicht einfach wie ein Stein vom Himmel gefallen. „Die Maschine war beim Absturz noch intakt und der Pilot hat eine Notlandung versucht.“ Aufgeregt sprang sie auf und ging hinter dem Tisch auf und ab. „Das ist es - und es ergibt Sinn.“ Ihr Herz pochte fühlbar auf der Höhe des Solarplexus gegen ihr Brustbein.

      Bleib jetzt ganz ruhig, sagte sie sich lautlos. Denk nach! Denk nach! Sie atmete einige Male tief durch, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie sich wieder hinsetzen konnte. Der Stuhl fühlte sich nun gar nicht mehr so hart und unbequem an, denn die neu erwachte Hoffnung erwies sich als eine wohltuende Polsterung. Wieso war ihr diese Schneise nicht schon vorher aufgefallen. Sie griff nach der Akte, suchte in dem Bericht der BFU die entscheidende Stelle. Voilà, und da steht es, bestätigt vom Büro für Flugunfalluntersuchung. Diese Schneise ist die denkbare Erklärung, dass ich als Passagier das Inferno an Bord dieser Unglücksmaschine habe überleben können.

      Emma atmete erleichtert aus. Skeptiker würde sie damit nicht überzeugen, aber ihre eigenen Zweifel hatte sie damit ausgeräumt, und das genügte ihr.

      Mit neuer Energie blätterte sie weiter durch die Akte, Seite für Seite arbeitete sie sich durch die komprimierten Berichte, aber vorerst gaben sie nichts weiter her und wenn man der Passagierliste der Unglücksmaschine Glauben schenken wollte, deckte die sich nahtlos mit den verkohlten Überresten der Unfallopfer. Entweder war das ein Fehler im System oder es bedeutete: Wer auch immer in der Vergangenheit mit ihr verbunden war, hatte mit allen Mitteln zu vertuschen versucht, dass irgendjemand von ihrer Existenz erfuhr – sogar über ihren vermeintlichen Tod hinaus. Diese niederschmetternde Erkenntnis traf sie mit der Wucht eines betäubenden Schlages.

      Emma liess sich in die Lehne fallen. Das schien alles so sinnlos. Sie zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung. Dachte an die vergangenen zwei Tage: an Jack und Rahul, die sich noch immer in ihrem Apartment aufhielten. Sie hatte darauf bestanden, dass sie vorerst blieben. Allerlei Behördengänge waren zu erledigen gewesen, gemeinsam ging alles viel leichter.

      Rahul hatte Glück gehabt: Sein Handgelenk war zwar – wie vermutet - gebrochen, musste aber nicht operiert werden, ein glatter sauberer Bruch, den eine selbsthärtende Bandage umschloss. Ihre geplante Trekking-Tour würde vorerst ausfallen, aber das war nebensächlich.

      Sie waren dem Tod entkommen. Sechsundzwanzig Todesopfer waren bis zum Vortag aus dem Tunnel geborgen worden und noch immer rechnete man damit, weitere Leichen unter den Trümmern zu finden. Wenn sie an all das Leid der Familien dachte, war der Verlust ihres Wagens ein Nichts; nur Jack trauerte seiner Schrottkiste immer noch hinterher.

      „An so einen Wagen komme ich nie wieder“, hatte er gejammert. Rahul und Emma allerdings hofften inständig für alle Verkehrsteilnehmer, dass er damit recht behielt.

      Sie hatten viel geredet in den vergangenen beiden Tagen. Über ihre gemeinsame Odyssee, aber auch über persönliche Dinge. Emma hatte ihnen ihre Geschichte anvertraut. Jack war sofort Feuer und Flamme und geradezu besessen gewesen von der Idee, ihr bei den Nachforschungen zu helfen. Natürlich hatte sie abgelehnt, aber Jack hatte ihre Einwände einfach beiseitegefegt. Rahul war zurückhaltender gewesen, aber Jack hatte nicht lockergelassen, ehe auch Rahul mit im Boot sass.

      Der ganze Disput war ihr peinlich gewesen, denn etwas an Rahul irritierte sie. Der Mann hatte etwas an sich, das sie nervös machte, ihr Herz unrhythmisch und laut schlagen liess, allein, wenn er sie ansah. Aber Jack kannte kein Pardon, also hatte sie lachend nachgegeben: Etwas Hilfe konnte schliesslich nicht schaden.

      Lautes Gepolter holte sie unsanft in die Gegenwart zurück. Schwere Schuhe stampften auf ausgetretenen Holzstufen von oben ins Kabuff hinunter.

      Emma fuhr hoch. „Onkel Alfred, du hast mich erschreckt!“

      Alfred Leclerc, Leiter der kleinen Polizeistation und alter Freund der Familie Schäfer, trat an ihre Seite. Er schnäuzte sich lautstark in ein Taschentuch von der Grösse einer althergebrachten Babywindel und sein Gesicht, durchzogen von einem Geflecht aus blauen Äderchen, lief dabei rot an.

      Leclerc winkte ungeduldig ab. „Seit wann bist du so empfindlich, Kind?“ Er setzte sich schnaufend an den Tisch nahe der Wand. „Und, was habe ich dir gesagt?“ Er zog die buschigen Augenbrauen zusammen. „Nein sag nichts, ich sehe es deinem Gesicht an. Du hast nichts gefunden.“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Was hast du dir bloss dabei gedacht?