A. C. Risi

PID - Tödliches Erbe


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kannte sie die beiden Männer gerade mal seit ein paar Stunden.

      Jack krallte seine Finger in das Geflecht des Gitters und rüttelte daran. Das Tor schepperte laut in den Angeln, gab aber nicht nach, sosehr er sich auch mühte. Er versuchte etwas von der Umgebung zu erkennen, aber dichtes Gebüsch versperrte ihm die Sicht. Das Einzige, das er hörte, war der Regen und das Rascheln von Blättern im Wind.

      Rahul hob die Hand. Emma und Jack hörten es jetzt auch. Da war noch etwas: Stimmen. Stimmen und Schritte, die näher kamen, das schmatzende, saugende Geräusch von Stiefeln auf sumpfigem Boden.

      Der Blättervorhang vor dem Gitter teilte sich und der behelmte Kopf eines Feuerwehrmannes tauchte auf. Der Mann starrte verblüfft auf die drei schmutzigen und völlig durchnässten Gestalten dahinter.

      5

      Mit wärmenden Decken versorgt, beobachteten sie durch die offene Schiebetür des Versorgungswagens die Männer draussen im Regen. Es herrschte hektische Betriebsamkeit. Schläuche wurden ausgerollt, Monturen ausgeteilt und hastig übergezogen. Befehle hallten über das Gelände des Quartierparks. Immer mehr Helfer tauchten in ihrem Blickfeld auf. Einige warfen ihnen im Vorbeigehen verstohlene Blicke zu.

      Emma nahm das alles nur am Rande war. Sie hatte ihre Finger eng um die wärmende Kaffeetasse geschlungen. Sie fühlte sich erschöpft, Schmutz klebte an ihr. Sie wollte nur so schnell wie möglich nach Hause, träumte von einem heissen Bad. Jack und Rahul schien es ähnlich zu ergehen.

      Sehr schnell hatte sich herausgestellt, dass niemand vom Katastrophendienst mit der Möglichkeit gerechnet hatte, beim Zugang zum Versorgungstunnel auf Überlebende zu stossen. Die Männer waren hierher abkommandiert worden, um zu klären, ob Wasser in die Kaverne eingedrungen war, und dieses allenfalls abzupumpen. Nach der ersten Aufregung über ihr unerwartetes Auftauchen hatte man sie mit Fragen bestürmt.

      Der Leiter vom Koordinationsteam des Katastrophenkorps hörte sich ihren Bericht in Ruhe an und entschuldigte sich dann. Ein Arzt tauchte auf und kümmerte sich um Rahuls Verletzung. Emma verzog mitfühlend das Gesicht, als sie das geschwollene Handgelenk sah.

      Der Arzt hantierte schnell und geschickt. Er fixierte das Handgelenk mit einer Schiene und einem Verband. „So, das wär's. Das ist zwar nur ein Provisorium, aber fürs Erste sind Sie versorgt. Trotzdem, lassen Sie das Gelenk baldmöglichst röntgen.“ Er griff in die Sanitätsbox. „Hier“, er reichte Rahul ein Briefchen mit Tabletten. „Die sind gegen die Schmerzen. Nehmen Sie jetzt gleich zwei davon, danach alle sechs Stunden eine. Die helfen auch, die Schwellung zurückzubilden.“

      Rahul nickte: „Hab verstanden, Doc. Danke!“

      „Keine Ursache. Ihnen konnte ich wenigstens helfen, andere hatten nicht so viel Glück. Ausser Ihnen hat es gerade mal eine Handvoll Leute aus dem Tunnel geschafft.“ Er schüttelte traurig den Kopf.

      „Gab es viele Tote?“, fragte Jack.

      „Das wissen wir noch nicht. Die Tunnelzufahrten sind total blockiert. Bis Sie aufgetaucht sind, wusste niemand wie es da drin aussieht.“ Er stand auf. „Also dann, gute Besserung“, sagte er und war auch schon wieder weg.

      Danach war es still im Transporter. Die neugierigen Gesichter waren verschwunden.

      „Das war's dann wohl“, sagte Emma. „Tut mir leid, das mit deiner Hand. Ich hoffe, es tut nicht so weh, wie es aussieht“, versuchte sie zu scherzen.

      „Halb so wild“, antwortete Rahul.

      Emma schielte zu Jack. Er hatte schon länger nichts mehr gesagt. Da unten in dem endlosen Labyrinth waren sie sich zwar nahegekommen. Hier oben, im hellen Licht des Tages, löste die Erinnerung jedoch verlegenes Schweigen aus.

      Emma räusperte sich. „Tja, was werdet ihr jetzt tun?“ Ihre Frage galt Jack, der vornübergebeugt auf der harten Bank hockte.

      Er schien nicht zu verstehen.

      „Was habt ihr nun vor?“, wiederholte Emma ihre Frage. „Ihr wolltet doch nach ausserhalb und jetzt kommt ihr nicht aus der Stadt raus.“

      „Naja“, antwortete Jack, „wir werden uns erst mal in einem Hotel einquartieren. Rahul ist erst heute Morgen aus Delhi angereist … und meine ganze Habe liegt irgendwo tief unter der Erde im Wagen vergraben, unter Tonnen von Geröll und Schrott. Kaum zu glauben, dass das alles erst ein paar Stunden her ist.“

      „Du sagst es“, bestätigte Rahul und dehnte seine verspannte Muskulatur. „Lass uns von hier verschwinden. Ich sehne mich nach einem ausgedehnten Nickerchen in einem schönen weichen Bett.“

      „Na dann“, Emma machte Anstalten, Rahuls Jacke auszuziehen, aber der winkte protestierend ab.

      „Behalt sie an, ich hole sie mir zurück, wenn sie wieder sauber ist.“

      Emma wurde rot und wusste nicht warum. Etwas an dem Mann verunsicherte sie zutiefst. Sie wollte etwas Passendes entgegnen, wusste aber nicht was. Da half ihr ein Klopfen an die Karosserie des Transporters aus der Klemme.

      „Das Taxi für die Lady ist da.“

      Sie reichten sich zum Abschied die Hände. Emma stieg aus und ging, ohne sich nochmals umzudrehen, auf den wartenden Wagen zu. Jack und Rahul waren hinter ihr ausgestiegen und blickten dem davonfahrenden Taxi nach. Keiner der beiden sagte etwas. Die Szene fühlte sich irgendwie falsch an; sie so allein davonfahren zu sehen war - irritierend.

      Am Taxi leuchteten die Bremslichter auf. Der Wagen kam ruckartig zum Stehen. Die Tür zum Font schwang auf. Ein Bein und ein Kopf kamen zum Vorschein. Ein breites Grinsen im Gesicht, rief Emma ihnen zu: „Wieso kommt ihr nicht erst mal mit zu mir?“

      ***

      Der Regen war versiegt. An einigen Stellen riss die dichte Wolkendecke auf. Fetzen blauen Himmels liessen auf ein baldiges Ende des stürmischen Wetters hoffen. Ein noch etwas nachdenkliches, ein etwas gedämpftes Bild bot sich dem Betrachter dar. Dennoch, die Stadt rührte sich wieder und die täglichen Dinge näherten sich ihrem normalen Gang.

      Der Alte stampfte polternd über einen der unzähligen Holzstege entlang des Sees, gut beschuht, mit robusten Tretern aus dunkelbraunem, speckigem Leder und einer schwarzen Regenhaut gegen das nasse Wetter gefeit. Das viele Wasser konnte ihn nicht abschrecken, ebenso wenig das Geflügel - die Enten und Schwäne, die bereits auf ihn warteten.

      Dr. Leopold Tanners Finger verschwanden in der Papiertüte. Das Rascheln brachte Bewegung in die Meute der hungrigen Mäuler. Die ersten Brotbrocken flogen allerdings weit über das vorgesehene Ziel hinaus. Schon bald hatte er sich eingeschossen und sie landeten da, wo er hinzielte, in die unmittelbare Nähe ihrer Schnäbel. Aber dann waren die Möwen zur Stelle. Laut kreischend schossen sie im Sturzflug heran, schnappten sich die Delikatessen aus der Luft, jederzeit bereit, erneut und blitzschnell zuzuschlagen. Aber Tanner passte sich der veränderten Situation ebenso schnell an, dabei hantierte er geschickt, nutzte immer wieder raffiniert kleinste Lücken, und so kam schliesslich keiner zu kurz.

      Er sass auf einer der Notbänke ganz in der Nähe. Seine Blicke schweiften umher, aber seine Aufmerksamkeit galt allein der kleinen gedrungenen Gestalt des Alten, der gerade armwedelnd die letzten Krümel auf die Bretter des hölzernen Steges bröseln liess, umgeben vom Geschrei der Vögel. Tauben und Spatzen hatten sich zu dem Mahl dazugesellt und rangelten aufgeregt und mit viel Körpereinsatz um die letzten winzigen Brosamen.

      Das Bild war immer dasselbe. Während der Alte den pickenden und streitenden Vögeln beim Fressen zusah, falteten seine Hände umständlich die leere Papiertüte zu einem kleinen Packen zusammen, als wäre sie weit mehr als nur schnödes Papier. Danach steckte er sie sich sorgsam in die aufgenähte rechte Jackentasche und machte sich auf den Heimweg.

      Heute liess er ihn noch ziehen, so wie gestern und vorgestern. Aber bald schon war die Zeit zu sterben gekommen.

      6

      Emma