Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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      Haibe kniete nieder, stellte die brennende Öllampe und den Korb ab. Mit den Händen fuhr sie über das Pflaster, neigte sich vor, bis die Stirn den Boden berührte, und verharrte so, spürte die Kälte des Steines in ihren Kopf dringen: magische Kraft.

      Große Göttin, gewähre mir Zutritt zu Deinem geheiligten Leib.

      Mit gebeugtem Rücken zwängte sich Taku an Haibe vorbei in den Gang, eine Eibenholzstange in der Hand. Ritgo blieb hinter Haibe im Freien. Sie spürte seine Gegenwart wie die der Steine. Taku murmelte den Segensspruch und setzte die Stange an. Die Steinplatte bewegte sich nicht.

      Haibe erhob sich auf die Knie und nahm getrocknete Misteln und Eibennadeln aus dem Korb. Dann hielt sie die geschwungene Flasche mit dem zierlichen Kragen und dem weit ausladenden Bauch in der Hand und fuhr die Gestalt des Gefäßes nach in Erinnerung an den gesegneten Leib der Göttin, ehe sie den Verschluss herauszog und das geweihte Öl über Blättern und Nadeln versprengte. Sie hielt die Lampe daran. Hoch schoss die Flamme auf, brannte nieder, verglomm. Mit der heißen Asche malte Haibe Zeichen auf den Steinboden, rief mit ihnen die Göttin an in jeder ihrer Gestalten: Ich bete Dich an, die Du Eins bist in Drei und Drei in Eins. Du allmächtige Lebensspenderin, lass mich zu Dir kommen. Mutter Erde, nimm mich auf in Deinem feuchten, schwarzen Schoß. Göttin des Todes, behalte mich nicht.

      Mit unwilligem Knirschen rührte sich die Steinplatte und ließ sich langsam verschieben. Taku keuchte. Trotz der Grabeskälte glänzte Schweiß auf seinem braungebrannten Rücken. Der Stein war zur Seite gerückt. Ein schwarzer Spalt gähnte: der Eingang in die andere Welt. Haibe stand auf, trat vor das Grab. Sie bebte.

      »Noch kannst du zurück«, meinte Ritgo.

      Sie schüttelte den Kopf. Ein letzter Blick auf die wenigen Häuser und Speicher des Dorfes und auf die dürre Insel im endlosen Wald: Emmer, Gerste und Einkorn standen schütter und niedrig, die Blätter mit den vertrockneten Spitzen zum unerbittlichen Himmel gestreckt. Der Ackerboden war hart und gerissen.

      Haibe straffte die Schultern. »Bring am vierten Tag das Opfer! Du und ich – wir tun, was getan werden muss.«

      Ritgo nahm ihren Kopf zwischen seine großen Hände, beugte sich zu ihr herab und berührte mit den Lippen ihre Stirn. »Mögest du gütige Aufnahme bei der Göttin finden, Rat und Hilfe bei den Müttern und Ahnen – und Schutz und Kraft für deinen gefahrvollen Weg!« Sie nickte kaum merklich.

      Taku, ihr Mann, kam gebückt ins Freie und streckte sich. »Am vierten Tag bei Sonnenuntergang?«, fragte er.

      »Am vierten Tag bei Sonnenuntergang«, bestätigte Haibe.

      Sie nahm die Lampe auf, holte die Trommel aus dem Korb, beugte den Kopf, tat einen Schritt in den niedrigen Tunnel, dann den nächsten. Am Schwellenstein verharrte sie. Finsternis vor ihr. Das kleine Licht in ihrer Hand zitterte. Tief schöpfte sie Atem. Kalte, modrige Luft – Grabesluft. Sie zog sich in sich zusammen, stieg über den Stein, zwängte sich durch die Öffnung und kroch auf den Knien ins Grab.

      Große Mutter, dies ist der Schoß Deines Leibes, aus dem alles geboren ist, in den alles zurückkehrt, aus dem alles wiedergeboren wird zu neuem Leben.

      Noch fiel Tageslicht in den höhlenartigen Raum. Langsam traten die Umrisse hervor: die glatten Flächen der gewaltig lastenden Deckensteine, die dicht an dicht stehenden Trägersteine und die Muster des kleinen Gerölls, das die Zwischenräume füllte. Die Enden des langgezogenen Grabraums verloren sich im tiefen Dunkel.

      Zaudernd nur tastete sich der Blick die geschliffene Steinwand hinab zum Boden, zuckte schreckhaft zurück, floh – und kehrte doch wieder. Totenschädel starrten, schwarze Augenhöhlen in bleichem Gehäuse, grässliches Grinsen gebleckter Zähne, Knochen in wirrem Durcheinander, getürmt zu schauerlichen Gebilden, Schulterblatt über Becken, Arm über Bein, zierliche Knöchelchen einer Kinderhand wie hingeworfene Stäbchen eines Spieles. Zwischen den fahlen Knochen weiß verziertes Geschirr, trichterförmige Becher, kunstvolle Flaschen, Schalen und Tassen und dort …

      Zwanghaft rutschte Haibe ein Stück vorwärts. Sie stieß an eine Elle, sofort zerrieselte diese zu Splittern und Staub, Haibe beachtete es nicht, hielt die Lampe tiefer. Ihr Atem ging schneller, als der Bernstein das Licht in honigfarbenem Schimmern einfing. Die Perlen waren noch aufgereiht auf der Schnur, hinten die kleinen Perlen, vorne die größeren, in der Mitte der lange Anhänger, in den eine Fliege gebannt war.

      »Mutter«, flüsterte Haibe. Plötzlich war das Bild da, ungerufen drängte es sich auf:

      Die Mutter im Festgewand, fein gewebter Stoff aus gebleichter Wolle, an Ausschnitt und Saum in den Farben von Kupfer und Erde gemustert, glänzende kleine Kupferringe in den aufgesteckten Zöpfen, die Bernsteinkette um den Hals.

      Die Mutter bewirtete die Sippe der Koa, den Korb mit den kleinen Honigkuchen in die Hüfte gestützt, die Bernsteinkette glühte im Sonnenlicht, Kinder umringten die Mutter, jedem gab sie einen Kuchen, Songo drängte sich schon wieder vor, versteckte ihren angebissenen Kuchen hinter dem Rücken, die Mutter strich Songo über die Wange und gab ihr lachend einen zweiten.

      Sie selbst – wie alt war sie damals, ein kleines Mädchen noch – hielt es nicht länger, sie zwängte sich durch die Kinder, den jüngeren Aktoll an der Hand: »Mutter, Mutter, uns auch!«

      Das Lachen verschwand aus dem Gesicht der Mutter, ein Heben der Augenbraue, ein zurechtweisender Blick: »Du weißt, dass ihr zu warten habt, bis die Gäste bewirtet sind!« Ihr war, als würden alle sie ansehn.

      Ein Geräusch brachte Haibe in die Gegenwart zurück. Sie blickte zum Eingang und sah den Umriss ihres Mannes. »Bist du bereit?«, fragte Taku.

      »Ja, ich bin bereit!« Schon während sie sprach, zweifelte sie an ihren Worten.

      Ein kurzes Zögern, dann griff sie nach der Bernsteinkette, bemühte sich, keinen der Knochen zu berühren, zog den Schmuck unter dem Gerippe hervor und legte ihn sich um den Hals: Mutter, leih mir deine Kette, mit ihr wird es leichter sein, Verbindung zu finden zu dir und den anderen.

      Sie stellte die kleine Lampe ab, die Tontrommel daneben. Sie hörte Ächzen, schweres Schleifen. Der massige Stein wurde vor den Ausgang geschoben und fiel mit dumpfem Poltern in sein Bett.

      Haibe war allein im Grab, eingeschlossen. Nun musste sie bei den Toten bleiben, hungern und dürsten, und niemand würde ihr beistehen, bis Taku am Abend des vierten Tages das Grab wieder öffnete.

      Dunkelheit, nur im kleinen Kreis erhellt von der dürftigen Flamme. Noch. Im flackernden Schein begannen die Knochen zu leben. Höhnisch lachten die Totenschädel, knöcherne Finger ballten sich zur Faust. Haibe schloss die Augen, zwang sich zur Ruhe: nur Schatten. Es sind die Gebeine meiner Mütter und Ahnen. Sie leben nicht, die Knochen. Es sind die Steine, die leben.

      Sie öffnete wieder die Augen, nahm das kleine Messer aus der Gürteltasche und schnitt sich mit der scharfen Steinklinge in den Finger der linken Hand. Das Blut quoll hervor. Sie fing es mit der Rechten auf. Vorsichtig erhob sie sich in gebückter Haltung, achtete darauf, nicht den Kopf an dem Deckstein zu stoßen, und trat zu dem Stein neben dem Eingang. Mit dem Blut malte sie in sich weitenden Ringen die Augen der Todesgöttin auf den kalten, glatten Steinleib: Weiße Frau, alles erspähende Eule, die Du das Leben verschlingst in den Tod, Dich bete ich an. Dann wandte sie sich zum nächsten Stein und trug ihm das heilige offene Dreieck auf: Vogelfrau, heilige Schlange, die Du das Leben wieder gebierst aus dem Tod, Dich bete ich an.

      Das Blut war versiegt. Haibe drückte und knetete an ihrem Finger, bis es wieder hervordrang. Sie malte damit in langer Wellenlinie das Lebenszeichen auf den nächsten Stein: Große Bärin, Hirschkuh, trächtige Sau, ewig fruchtbare Mutter, die Du das Leben schützt, spendest und erhältst, Dich bete ich an. Dich rufe ich um Beistand an, ewige Quelle des Lebens. Unsere Quellen sind versiegt

      »Mutter,