Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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sagen kann.«

       Ohne Abschied?! Nur mit Mühe konnte sie ihre Gedanken zurück zu Lüre zwingen. »Aber die alte Priesterin hat dir eine Nachricht hinterlassen«, fuhr diese fort.

       »Mir? Wusste sie, dass ich kommen würde?«

      Lüre lächelte freudlos. »Dir oder jeder anderen Sippenmutter. Du bist nicht die erste, die hierher kommt, um Rat zu erfragen. Und nicht die erste, der ich im Namen der alten Priesterin sage: Bitte um die Hilfe und Fürsprache deiner Mütter und Ahnen. Suche sie auf. Bitte sie, sich für Regen zu verwenden. Frage die Toten um den Rat und Beistand, den die Lebenden nicht geben können. Und dann komm beim nächsten Vollmond hierher zur Beratung der Priesterinnen mit den Sippenmüttern.«

      »Du meinst«, sie stockte, beendete heiser den Satz: »Ich soll ins Grab?«

      Lüre nickte: »Ins Grab deiner Mütter und Ahnen. Vier Tage und drei Nächte. Ohne Essen und Trinken. In völliger Finsternis. Allein. Wenn du dich stark genug fühlst für diesen gefahrvollen Weg, so geh ihn. Er ist schwer, das will ich dir nicht verhehlen. Hüte dich, in der Raserei der Furcht zu versinken, sonst kehrst du nicht zurück! Der Hunger wird dich zermürben und schwächen. Doch schlimmer ist der Durst. Er wird dich quälen wie ein Feuerbrand. Am schlimmsten ist das andere. Du wirst deinen Sinnen nicht mehr trauen können. Du wirst die Grenzen deines Körpers verlieren. Erinnerungen werden über dich kommen wie Vogelschwärme, Stimmen und Visionen werden dich heimsuchen. Am Ende wirst du dich dem Tode nah wissen. Doch wenn du ihm nah bist, so bist du auch den Toten nah. Enger als je zuvor wirst du das Band zu ihnen spüren, und sie werden dich Bilder sehen lassen, in denen Erkenntnis liegt.«

      Lüres Stimme verklang. Doch dann setzte sie neu an: »Die alte und die junge Priesterin und ich, wir alle sind in großer Sorge. Die Sterne künden Unheil, die Zukunft liegt uns im Dunkel. Wir müssen unsere Kräfte vereinen. Auch deine Kraft – und die deiner Mütter und Ahnen! Dein Bruder soll am vierten Tag, den du im Grab verbringst, ein Schwein hierher zum Opfer bringen. Das wird dich stärken bei der Begegnung. Wie ist es, Haibe, wagst du es, dich im Grab deiner Mütter und Ahnen einschließen zu lassen, um die Verbindung zu ihnen zu suchen?«

      Die Antwort fiel ihr schwer. Sie zögerte. Nakis Finger schlossen sich um ihre Hand. »Mutter, du tust es, nicht wahr?«

      »Ich habe es getan«, flüsterte Haibe und presste die Hände an die Stirn. »Steh mir bei – ich habe es getan!«

      Als sie die Augen öffnete, sah sie die schmale Spur schwachen Lichtes über dem Eingang, eine feine Linie, die sich auf der rechten Seite zu einem Dreieck verbreiterte: der einzige Hinweis auf die Welt des Tages.

      Sie schloss die Augen wieder. Es war besser, diese Linie nicht zu sehen. Sie ließ die Finsternis umso finsterer erscheinen. Mit geschlossenen Augen konnte sie sich der Täuschung hingeben, es sei einfach Nacht.

      Sie dachte an ihren Garten, wie sie ihn am frühen Morgen vorgefunden hatte. Wie welk die Erbsenpflanzen ausgesehen hatten, wie matt sie die Blätter hängen ließen. Und schon wieder hatten sie Blüten abgeworfen. Wenn nun auch noch die wenigen Schoten vertrockneten, die sie angesetzt hatten!

      Konnten Mulai und Gwinne, Naki, Uori und die Kinder es allein schaffen, genügend Wasser aus dem Brunnen zu fördern, um die Pflanzen ausreichend zu gießen? Dringend musste der Boden wieder gehackt und gelockert werden, sonst verlor er noch mehr Feuchtigkeit –

      Es gab so viel Arbeit, und sie saß hier, zum Nichtstun verdammt. Sie sprang auf – und stieß sich am Kopf. Der Schmerz brachte sie zur Einsicht. Sie war hier, um Regen zu erflehen. Sie musste sich in Geduld fassen. Wie sollte sie vier Tage ausharren, wenn sie schon ungeduldig wurde, kaum dass sich das Grab hinter ihr geschlossen hatte!

      Regen: Ein grau verhangener Himmel, tiefe, langsam ziehende Wolken, stetiger, sanfter, lauer Frühsommerregen, viele Tage und viele Nächte lang, ein Regen, der nicht das Erdreich abschwemmte, sondern tief in die Erde eindrang. Der die Erbsen und die Bohnen, die Linsen und den Mohn, den Lein und den Emmer, das Einkorn und die Gerste mit lebenspendendem Wasser versorgte. Der die Bäume, die Sträucher und die Wiesen erfrischte …

      Oder wenigstens ein gutes Gewitter. Keines, das allzu rasch aufzog, das mit Sturm oder Hagel die Felder vernichtete und unermesslichen Schaden anrichtete. Aber starke, schwarze Wolken, ein kräftiger und ausgiebiger Regenfall, der die Quellen wieder fließen ließ und den Bach füllte …

      Sie seufzte. Nur an Regen zu denken konnte auch nicht der rechte Weg sein. Könnte sie doch etwas tun! Worauf hatte sie sich eingelassen, eine Aufgabe zu übernehmen, für die sie weder gebildet noch geeignet war!

      Zirrkan, dachte sie, dir macht es keine Schwierigkeit, still dazusitzen und die Hände ruhen zu lassen. Dir macht es keine Schwierigkeit, deinen Geist zu öffnen, nichts zu hören und nichts zu sprechen. Du warst immer sehr schweigsam. Aber warum hast du mich nicht verständigt, bevor du zu der Reise aufgebrochen bist, von der Lüre gesprochen hat? Warum hast du nicht Abschied von mir genommen? Das war nicht recht! Und so gar nicht deine Art …

      Sicher, auch sonst vergehen oft viele Monde, ehe wir uns wieder sehen. Aber ich weiß doch, du bist in der Nähe, in irgendeinem der Dörfer, oder mit deiner Mutter bei den Heiligen Steinen! Und ich könnte nach dir fragen, dich aufsuchen oder nach dir schicken, wenn ich dich brauchte.

      Du aber gehst ohne ein Wort. Im Auftrag deiner Mutter, der Priesterin …

      »Ich komme im Auftrag meiner Mutter, der Priesterin!« Der fremde junge Mann, dem sie die Tür geöffnet hatte, schüttelte die Regentropfen aus den Haaren und lächelte ihr zu. »Ich bin Zirrkan. Ich soll die Vorbereitungen für das Heilige Fest besprechen.«

      Er hatte ihr gleich gefallen, vom ersten Augenblick an. Seine dunkle, warme Stimme, die jedes Wort in Musik verwandelte. Sein herbes Gesicht mit der hohen Stirn, den nachdenklichen, sehr hellen Augen und der schmal geschnittenen Nase, ein Gesicht, das im Lächeln überraschend weich werden konnte und so ganz anders aussah als die runden Köpfe und breitnasigen Gesichter der Dala und Koa im Dorf. Seine flachsblonden Haare, die sich an der Stirn widerspenstig sträubten und in ihr den Wunsch wachriefen, sie glatt zu streichen. Sein schlanker Körper, der neben den wuchtigen Männern der Dala und Koa beinahe zerbrechlich wirkte. Seine feingliedrigen Hände, von denen sie sich kaum vorstellen konnte, dass sie das Beil handhabten und den Pflug führten.

      Ja, gefallen hatte er ihr. Aber erst, als sie ihn Flöte spielen und singen gehört hatte, hatte sie ihn zu lieben begonnen. Niemals hatte sie eine Musik gehört wie seine. Während sie ihr gelauscht hatte, hatte sie die Nebel über dem Moor, den Raureif auf den Zweigen und das klare Wasser des Baches über bemoosten Steinen gesehen, hatte den Himmel sich färben und den Mond aufgehen sehen, das Herbstlaub leuchten und die Blumen blühen. Und als er die Flöte weggelegt und ihr zugelächelt hatte, da hatte sie geahnt, nur ihn lieben zu können, niemals einen anderen als ihn. Aber sie hatte es nicht wahrhaben wollen.

      Ich muss ihn vergessen. Er ist kein Koa. Er kommt aus einem Dorf neun Wegstunden von hier. Er kann nicht mein Mann werden. Und ich bin Taku versprochen. Heftig schlug sie das nasse Wäschestück auf den Stein am Bachufer. Das kalte Wasser spritzte ihr ins Gesicht.

       »Kann ich dir helfen, Haibe?«

      Ameisenkribbeln in ihrem Bauch. Sie hatte gedacht, Zirrkan sei schon zum