Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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Da sprach Ba zu Ra: Lass uns einen Bund gründen, dass nicht länger deine Sippe getrennt sei von meiner Sippe und dass wir uns beistehen in jeder Not. Dass wir dir Obdach geben und dir ein Haus bauen, wenn dein Haus verbrennt, und du uns nährst, wenn unsere Ernte verdirbt oder unser Vieh versinkt! Und Ra sprach: So sei es. Doch nicht nur für uns, sondern auch für unsere Kinder und Kindeskinder. Und Ba sprach: So sei es. Und so wollen wir den Bund gründen: Meine Töchter sollen deine Söhne heiraten und deine Töchter sollen meine Söhne heiraten. So werden unsere Söhne die Sippen verknüpfen und den Bund bewahren. Denn ihre Treue wird ihrer eigenen Sippe gehören, ihre Liebe aber der Sippe ihrer Frau. Und Ra sprach: So sei es.

      »Ich weiß doch, Mutter, dass der Bund der Dala und Koa in der heiligen Ordnung begründet ist und dass ich deswegen einen Koa heiraten muss! Meinst du, ich hätte mir das nicht selbst unzählige Male vorgehalten?! Tag und Nacht denk‘ ich nichts anderes! Und Tag und Nacht komm‘ ich zum gleichen Schluss: Ich kann weder Taku noch einen anderen Koa heiraten. Ich gehöre zu Zirrkan!«

      »Zu einem Mann aus einem Dorf neun Wegstunden östlich von hier? Wenn du schon nicht begreifen willst, dass du Taku heiraten musst, so begreife wenigstens, dass du Zirrkan nicht heiraten kannst! Wie sollte Zirrkan bei dir sein und zugleich seine Pflichten bei seiner Sippe erfüllen? Er ist der einzige Bruder seiner Schwester Kugeni, er wird der Große Oheim seiner Neffen und Nichten sein! Wie sollte er bei dir schlafen und bei den Seinen arbeiten? Wie sollte er deine Kinder lieben und die seiner Schwester erziehen?«

      Da war sie wieder, die Macht der Einwände. Aber sie konnte dennoch nicht von Zirrkan lassen, sie konnte es nicht. »Dann verlasse ich eben unser Haus und unser Dorf! Soll Gwinne nach dir Sippenmutter werden, soll Gwinne den Bund mit den Koa schließen! Ich gehe mit Zirrkan und lebe bei ihm!«

      Da schrie die Mutter sie an.

      Niemals, ihr ganzes Leben nicht, hatte Haibe ihre Mutter im Zorn schreien hören. Doch nun schnitt die rasende Stimme der Mutter sie mitten entzwei:

      »Sag das nie wieder, nie! Eine Frau läuft nicht einem Mann nach! Eine Frau verlässt nicht ihre Sippe! Eine Frau lebt nicht im Haus der Mutter oder Schwester ihres Mannes! Willst du alles mit Füßen treten, was uns heilig ist?! Willst du wie eine von den Frauen der Söhne des Himmels werden, über die es heißt, sie seien ohne Einfluss und ohne Ehre und ohne Stolz?!«

      Haibe löste sich von dem Stein. »Du warst sehr hart zu mir, Mutter«, murmelte sie. »Aber du hast dein Ziel erreicht. Vielleicht hätte ich dir widerstanden, wäre da nicht der Große Oheim gewesen, der sich an deine Seite stellte. Gegen seine unerbittliche Ruhe war ich wie eine Feder gegen den Wind. Ihn konnte ich nicht hassen dafür. Aber dich, dich!«

      Haibe umklammerte die Bernsteinperlen der Halskette. Erst beim Tod der Mutter hatte sie begriffen, dass auch die Mutter unter dem gelitten hatte, was sie ihrer Tochter hatte antun müssen.

      Haibe hatte Taku geheiratet. Acht Jahre lang hatte sie Zirrkan nicht wiedergesehen. Aber kein Tag, an dem sie nicht an ihn gedacht hätte. Vielleicht war ihre Tochter Naki deshalb Zirrkan so ähnlich geworden, dass es sie schmerzte vor Liebe.

      Und jedes Mal, wenn sie sich seither mit Taku vereinte, vereinte sie sich in Wahrheit mit Zirrkan.

      Taku hatte die Veränderung bemerkt – natürlich hatte er sie bemerkt –, und er hatte sich darüber gefreut. Seit dem Heiligen Fest bist du völlig verändert, hatte er glücklich gesagt, die Göttin hat dich erweckt, sodass du mich richtig lieben kannst.

      Sie hatte ihn in dem Glauben gelassen: Das war das Mindeste, was sie ihm schuldete. Und wenn sie in den letzten Jahren, seit Zirrkan als Heiler von Dorf zu Dorf zog und gelegentlich auch zu ihnen kam, sich mit Zirrkan vereint hatte, hatte sie es heimlich getan. Obwohl es keine große Bedeutung hatte, wenn eine verheiratete Frau mit einem anderen Mann zusammen war, solange sie es nicht in ihrem Haus tat. Aber sie wusste, dass es Taku trotzdem kränken würde. Und kränken wollte sie ihn nicht. Denn Taku war ein guter Mann. Er war ein hervorragender Baumeister und ein treuer Freund. Vor allem aber war er ein guter Muga. Immer wieder neu erstaunte es sie, wie genau er beide Anforderungen zu erfüllen verstand: die eines Großen Oheims und die eines Mugas, wie er es fertigbrachte, den Kindern seiner Schwestern bei aller Freundlichkeit ein so ruhig bestimmter Erzieher zu sein, von ihnen Aufrichtigkeit, Fleiß und Ehrerbietung zu fordern und zu erhalten – und wenige Augenblicke später ihren eigenen Kindern der nachsichtigste Vertraute und Spielgefährte zu sein.

      Sie war keine gute Mutter. Für ihre Söhne schon, aber nicht für Naki. Nachgiebiger als eine Tante war sie stets zu Naki gewesen. Wenn Mulai nicht stillschweigend für Naki die Festigkeit an den Tag gelegt hätte, die eigentlich Aufgabe der Mutter war, wo hätte das hingeführt?

      Wenn Naki sie aus ihrem schmalen Gesicht mit ihren nachdenklichen hellen Augen ansah – Zirrkans Augen –, dann wurde alles in ihr weich, dann spürte sie nichts als Zärtlichkeit und Liebe. Und es gelang ihr nicht, Forderungen an Naki zu stellen oder ihr Wünsche abzuschlagen, es gelang ihr nicht, sie zurechtzuweisen, und wenn sie es doch versuchte, so wusste sie, dass ihre Blicke ihre Worte Lügen straften.

      Niemals war ein Mädchen wie Naki aus der Sippe der Dala hervorgegangen. Auch Zirrkan konnte sich dem Zauber ihrer Tochter nicht entziehen. Bei jedem Besuch band er das Mädchen stärker an sich. Mehr und mehr weihte er sie in sein Wissen und in die Anfänge der Heilkunst ein.

      Haibe hatte schon lange geahnt, dass Naki etwas anderes bestimmt war, als Sippenmutter der Dala zu werden. Dass Naki mehr Zugang zur unsichtbaren Welt hatte als je ein Mädchen der Dala.

      Bei seinem letzten Besuch im vergangenen Jahr hatte Zirrkan es ausgesprochen: Ich glaube, die Göttin wird ihre Hand auf deine Tochter legen und sie zu ihrem Werkzeug machen. Sei es als Heilerin, sei es als Priesterin. Bis sie dorthin kommt, ist es ein schmerzhafter Weg. Aber wen die Göttin erwählt, dem hilft keine Flucht.

      Haibe seufzte. Es war schwer, Naki loszulassen. Und das würde sie tun müssen, wenn es soweit war.

      Doch hatte ihr die Tochter jemals gehört? In ihrem ganzen Wesen schien Naki eher zu Zirrkan zu gehören als in die Sippe der Dala.

      Nie würde sie selbst vergessen, wie Zirrkan, bleich und krank vor Trauer und hilflosem Schmerz, zum ersten Mal wieder ins Dorf gekommen war und Naki gesehen hatte – und wie er sie angeblickt hatte: als sähe er einen Geist.

      Ich kann es nicht fassen, hatte er ihr später gesagt, deine Tochter sieht aus wie meine Schwester als Kind, ich seh‘ Kugeni noch vor mir, als sie so jung war wie deine Naki jetzt … Er hatte geweint.

      Hilflos hatte sie seine Hand gehalten, sein Haar gestreichelt. Wie sollte man trösten bei einem so furchtbaren Schmerz. Wie sollte man trösten, wenn es keine Worte mehr gab, die an das Entsetzen reichten?

      Acht Jahre war das nun her. In jenem trockenen Sommer, als der Bach schon einmal versiegt war und als die Söhne des Himmels Zirrkans Dorf …

      Da war etwas. Haibe lauschte. Ihr war, als hätten die Steine geschrien. Ihr etwas zugeschrien.

      Nichts. Doch plötzlich, völlig unerwartet, war es da, das Grauen. Stand da wie ein Wolf, dem man unversehens zu nahe gekommen war, das Fell gesträubt, die Zähne gefletscht.

      Aber es gab sich nicht zu erkennen. Ihr Herz hämmerte.

      »Hüte dich, in der Raserei der Furcht zu versinken, sonst kehrst du nicht zurück!«, sagte sie laut in die Finsternis. Sie zwang sich zu ruhigem Atmen. Dann tastete sie nach der Trommel, begann sie sacht zu schlagen, wiegte den Körper im Rhythmus, sang leise. Sie sang Melodien ohne Anfang und Ende. Gleich einer Spirale wanden sie sich im immer wiederkehrenden