Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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fragte sie die Tochter, vom Backtrog aufsehend.

      Naki schüttelte den Kopf. »Das musst du selbst sehn!« Schon war die Tochter wieder draußen, rannte über den Dorfplatz, drehte sich ungeduldig nach ihr um.

      Sie eilte Naki hinterher, auf dem Weg durch die verdorrten Äcker zum Bach. Sie ahnte, was die Tochter ihr zeigen wollte. Als sie es sah, war ihr dennoch, als legten sich Hände um ihre Kehle. Der Bach hatte von Tag zu Tag weniger Wasser geführt. Nun war er gänzlich ausgetrocknet.

       »Warum?«, flüsterte Naki.

      Sie selbst schüttelte nur den Kopf, sehr müde auf einmal.

      »Das war doch noch nie da!«

      »O doch, erinnerst du dich nicht, Naki, du warst noch ein Kind, in dem Sommer, als Zirrkans Dorf überfallen wurde – acht Sommer ist das nun her, da ist der Bach auch versiegt.« Sie redete und redete. Und konnte doch das Erschrecken nicht übertönen.

      Haibe lehnte die Stirn an den Stein. »Was haben wir falsch gemacht, Große Göttin? Warum säugst Du uns nicht mehr wie eine Hirschkuh ihr Kalb und schützt uns nicht mehr wie eine Bärin ihr Junges? Warum erlahmt Deine Kraft? Warum ziehst Du Deinen Segen von uns ab? Lässt uns vergebens um Regen flehen? Haben wir nicht den Tanz der Erneuerung getanzt wie jedes Jahr? Gesungen, gebetet und geopfert wie jedes Jahr? Du bist doch unsere Mutter! Willst Du uns zeigen, dass wir keine Säuglinge mehr sind, die kaum einen halben Laut von sich geben müssen, um schon gehätschelt zu werden? Nun gut, wir sind keine Säuglinge mehr. Aber doch Deine Kinder! Eine Mutter lehrt ihre älteren Kinder Verzicht. Aber sie lässt sie nicht hungern! Sie lässt sie warten. Aber nicht verzweifeln! Wir sind verzweifelt. Darum bin ich hier. Darum suche ich in Deinem Leib den Rat meiner Mütter und Ahnen. Wenn unsere Bitten Dich nicht erweichen, mögen es die ihren tun! Wenn unsere Ohren Deine Stimme nicht hören, mögen es die ihren tun! Wenn wir nicht wissen, was wir tun sollen, mögen sie es uns sagen!«

      Haibe kehrte zu der kleinen Flamme zurück, stieg dabei über Knochen, Scherben und Tontöpfe, kauerte nieder und verband sich den Finger mit ihrem Webgürtel.

      Was jetzt blieb, war: warten.

      Das kleine Licht flackerte. Plötzlich ertrug sie es nicht mehr, dies Flackern zu sehen und nicht zu wissen, wann die Flamme erlöschen würde. Sie beugte sich vor und blies sie aus.

      Abgrundtiefe Finsternis. Eine Finsternis, aus der es kein Entrinnen gab, vier lange Tage. Die Luft wurde ihr knapp. Als würden die Steine sich auf ihre Brust senken. Was, wenn sie eine Aufgabe übernommen hatte, der sie nicht gewachsen war? Dies war ein Weg, den sonst nur Berufene gingen: Priesterinnen, Heiler …

      Kein Lebender, der ihr beistehen würde bei dem, was vor ihr lag. Kein Lebender, der helfen würde, wenn die Furcht über sie kam. Und die Toten? Haibes Atem ging schneller. Zu wissen, dass sie um sie herum waren …

      Haibe schloss die Augen, legte die Fingerspitzen an die Schläfen. Versinke nicht in der Raserei der Furcht, hatte Lüre sie gewarnt.

      Die Hitze flimmerte über dem Boden.

      Zwischen dem dürren Schilf stand die heiße Luft. Der Sumpf war ausgetrocknet.

      Ihre Füße brannten. So weit wie heute war der Weg zu den Heiligen Steinen noch nie. Sie erreichten das Ufer des Flusses. Sand und rissiger Schlick, wo sonst das Wasser glänzte. Nur ein schmales Rinnsal schlängelte sich noch zwischen den Steinen hindurch, die gewöhnlich die Furt gangbar machten.

      »Warum lässt die Große Göttin das zu?«, sagte Naki.

      »Das frag die alte Priesterin«, wehrte sie ab. Es tat ihr leid, wie harsch ihre Worte klangen. Schweigend durchquerten sie das Flussbett, wuschen sich im Rinnsal und stiegen die jenseitige Böschung hinauf.

      »Mutter«, fragte Naki, »war auch das schon einmal da: dass der Fluss ausgetrocknet ist?«

      »Nein. Nicht, solange ich weiß. Selbst während der Dürre vor acht Jahren – als das Unglück der trockenen Frühjahre und Sommer seinen Anfang nahm – ist der Fluss nicht versiegt.«

      Jetzt versiegt er. Wie lange wird es noch dauern, bis er gar kein Wasser mehr führt? Und was dann?

      Die alte Priesterin wird die Antwort wissen. Sie muss sie wissen!

      Die Sonne ging unter, als sie zu den Heiligen Steinen gelangten. Wie immer, wenn sie sich diesem Mittelpunkt näherten, an dem das Heilige so nah war wie nirgendwo sonst, erfasste sie ein Schauer. Die großen, zu langgestreckten Hügeln aufgeschütteten Grabkammern, in denen in der Urzeit die Sippen der Urfrauen Ba und Ra in den Schoß der Großen Mutter eingegangen waren, leuchteten im Abendlicht. Die lange Reihe der aufgerichteten Steine schien sich von einem Grab zum anderen in feierlicher Prozession zu bewegen – lebende Steine, in denen die Urahnen fortdauerten, die den ewigen Bund geschlossen und die Trennung aufgehoben hatten.

      Gemeinsam mit der Tochter kniete sie nieder und drückte die Stirn auf den heiligen Boden. Hier würden sie Rat und Weisung erhalten.

      Als sie sich wieder erhoben, sahen sie eine schwarzgekleidete Gestalt ihnen entgegenschreiten. Es war nicht die alte Priesterin. Es war auch nicht die junge Priesterin. Es war Lüre, die junge Schülerin, ein Mädchen kaum älter als Naki.

      Sie tauschten den herkömmlichen Gruß. Das Sprechen erschien Haibe eine große Anstrengung: »Wir kommen, weil wir Rat suchen. Unser Bach ist ausgetrocknet. Immer tiefer müssen wir unseren Brunnen graben, um an Wasser zu kommen. Wäre Taku, mein Mann, nicht ein so guter Baumeister, so müssten Mensch und Vieh verdursten. Jetzt legen unsere Männer einen zweiten Brunnen an. Aber wir können nicht genug Wasser fördern, um auf Dauer unsere Gärten zu retten – geschweige denn unsere Felder. Erbsen, Bohnen, Linsen und Mohn werden vertrocknen, der Lein verdorren. Und der Weizen steht spärlich und fängt schon bald an zu reifen, ehe das Korn sich gerundet hat. Wenn es nicht sehr bald regnet, haben wir ein Hungerjahr vor uns.«

      »So steht es in allen Dörfern, von denen ich gehört habe«, bestätigte Lüre bedrückt. »Doch kommt mit mir. Ihr werdet durstig sein!«

      Lüre führte sie in den Schatten einer alten Eiche und bot ihnen mit Wasser verdünnte Sauermilch an. »Ihr wolltet eine der beiden Priesterinnen sprechen?«

      Schon ehe Haibe nickte, verlor sie die Hoffnung.

      »Die Priesterinnen haben sich jede allein zu vierzigtägigem Fasten in die Einöde zurückgezogen«, sagte Lüre. »Es müssen noch fünfzehn Tage vergehen, ehe sie zurückkehren. Ich hoffe, sie bringen Antworten auf die Fragen mit, die uns alle quälen.«

      Der weite Weg – umsonst. Es sei denn, er war da …

       »Und Zirrkan?«, fragte sie. Einen Augenblick wurde ihr warm, nur beim Nennen dieses Namens.

      Doch Lüre hob bedauernd die Hände. »Der Heiler