Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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verlor dabei jedes Gefühl für die Zeit. Als ihr kein Lied mehr einfiel, sang sie die gleichen noch einmal. Und noch einmal.

      Diese Lieder hatten ihr Leben begleitet, waren ihr vertraut, solang sie denken konnte. Einst hatte die Mutter sie immer gesungen …

      Die Mutter stand am Webstuhl, arbeitete und sang. Sie, das Kind, ließ sich mit der Spindel an der Feuerstelle nieder, zupfte an der Wolle, zwirbelte sie, streckte dabei die Füße zum Feuer aus und summte mit. Tante Kjolje fiel ein und wiegte ihr Baby an der Brust. Die Stimmen verwoben sich mit dem Prasseln und Rauschen des Regens, mit dem Knistern des Feuers.

      Kusine Mulai verlas Linsen, die größeren Vettern drehten gemeinsam eine Schnur, Li und Aktoll, die kleinen Brüder, spielten mit Holzklötzen, und Ritgo widmete sich dem mühsamen Durchbohren einer Steinaxt, indem er gleichförmig den Bogen der Bohrvorrichtung hin- und herzog. Nun begann auch er mitzusingen. Ritgos Stimme war die schönste.

      Der Gesang endete. Eben wollte Haibe ein neues Lied vorschlagen, da ging die Tür auf. Der Muga kam herein, dicht hinter ihm Usko, der Muga von Mulai und ihren Geschwistern. Sie schüttelten sich. Wassertropfen stoben aus ihren Haaren. Sie hängten die durchnässten Mäntel über das Feuer. Haibe brachte den Breitopf vor dem herabrinnenden Wasser in Sicherheit.

      »Was für ein Regen!«, sagte der Muga und legte der Mutter den Arm um die Hüfte.

      Die Mutter lehnte ihren Kopf zurück an seine Schulter, ohne das Weben zu unterbrechen: »Frühlingsregen – Erntesegen!«

      Der Muga küsste ihr Haar, ließ sie los, kauerte neben Ritgo nieder. »Langwierige Arbeit, was?«

      Ritgo verzog das Gesicht. Er holte die Doppelaxt unter dem Bohrstab hervor, blies Sand und Steinstaub weg und zeigte sie dem Muga: »Hier! Ich bohre schon seit Tagen. Mein Oheim sagt, morgen muss es fertig sein!«

      »Tja«, meinte der Muga, »wenn dein Oheim das sagt, da kann man nichts machen!«

      Usko nahm Tante Kjoljes Baby auf seine Knie. »Auch!«, rief der kleine Li und streckte dem Muga die Ärmchen entgegen.

      Der Muga setzte sich auf einen Schemel, hob sich Li aufs Bein und ließ ihn auf und ab hüpfen. Und dann sagte er: »Männer gibt es, Li, die reiten so auf Pferden!«

      »Ferden?«, fragte Li verständnislos.

      Haibe lachte. »Aber Li! Glaub doch nicht alles! Der Muga macht wieder nur Spaß!«

      »Baaß?«, wiederholte Li zweifelnd. »Kein Baaß!«

      »Natürlich ist es Spaß!«, warf Ritgo ein. »Pferde lassen niemanden auf ihrem Rücken reiten! Außerdem kann man ein Pferd gar nicht einfangen!«

      »Hör nicht auf deine Geschwister, Li«, sagte der Muga. »Die haben keine Ahnung. Es ist kein Spaß. Es ist wahr. Es gibt sie wirklich, diese Männer, die auf Pferden reiten! Im Osten wohnen sie. Sie sprechen eine andere Sprache als wir. In ihrer Sprache nennen sie sich: Söhne des Himmels. Und die halten sich gezähmte Pferde und reiten auf ihnen.«

      Die Mutter ließ den Webbaum fahren. Dumpf polterte er gegen den Rahmen des Webstuhls. »Söhne des Himmels! Ich werde es nie begreifen. Wie können Menschen so vermessen sein, sich einen Namen zu geben, der eine einzige Beleidigung für die Große Göttin ist?«

      »Aber du weißt doch, dass sie sie nicht verehren, die Große Göttin, in keiner ihrer Gestalten!«, erwiderte der Muga. »Nicht als Schlange und nicht als Hirschkuh, nicht als Eule und nicht als Bärin, nicht als Vogelfrau und nicht als Sau. Sie haben Götter, die sie die Himmlischen nennen!«

      Haibe öffnete stumm den Mund. Ihr Atem stockte. Plötzlich war alles fremd und unwirklich um sie. Als sei nicht mehr sie es, die hier am Feuer saß.

      Die Spindel entglitt ihren kraftlosen Fingern.

      Haibe erinnerte sich an das Erschrecken, das sie damals in ihrer Kindheit erfasst hatte: Nie zuvor war ihr der Gedanke gekommen, dass es andere Götter geben könnte als die Große Göttin in ihren vielen Erscheinungsformen. »Damals war mir, als würde der Boden wanken, auf dem ich stand«, sprach Haibe leise in die Dunkelheit, »der Boden, der doch bis dahin so fest und unerschütterlich gewesen war. Als ich hörte, dass es außerhalb der Gewissheit, in der ich aufgewachsen war, andere Götter gab, erfüllte es mich mit Angst und Unsicherheit. Mir ist, als wäre dies der Augenblick gewesen, in dem ich meine Unschuld verlor.«

      Haibe horchte ihren Gedanken nach. Es war gut, in Worte zu fassen, was man bisher nur ungenau gespürt hatte. Langsam sprach sie weiter, wusste selbst nicht, ob sie zur Göttin sprach, zu den Müttern und Ahnen oder zu sich selbst:

      »Von diesem Tag an erfasste mich eine beinahe krankhafte Neugier nach allem, was ich über diese Söhne des Himmels erfahren konnte. Und alles, was ich hörte, diente mir zu Bestätigung, dass diese Söhne des Himmels Irrsinnige waren. Ich hätte nicht weiterleben können ohne diese Sicherheit. Ich hing an den Lippen jedes Händlers, der etwas über die Söhne des Himmels zu berichten wusste, ich lauschte jedem Gespräch, das die Erwachsenen über sie führten, ich sammelte Geschichten über sie, wie andere Kinder bunte Steine sammeln. Und was waren das für Geschichten! Eine Welt, die auf dem Kopf stand.« Haibe verstummte. Warum redete sie über ihre Kindheit? Verschloss sie sich damit nicht dem, was hier im Grab geschehen sollte, geschehen musste?

      Sie seufzte: Naki, so jung sie noch ist, wäre dieser Prüfung besser gewachsen als ich. Naki würde sie spüren, die Nähe der Göttin, die Nähe der Mütter und Ahnen. Ich aber war nie ein Mensch, dem sich die Tiefen der frommen Versenkung eröffnet haben. Ich war immer ein Mensch der Tat.

      Doch noch hat mich ja der Hunger nicht zermürbt, noch bohrt er nur in meinem Magen. Noch quält mich der Durst nicht als Feuerbrand, noch sind mir nur Zunge und Mund trocken. Und das andere, von dem Lüre sprach? Da ist nichts anderes. Nur meine kindische Furcht vorhin. Wenn ich nur wüsste, wie spät es ist!

      Sie suchte mit den Augen die Linie und das Dreieck des Lichts und fand sie nicht. Sieh an, ich habe den ersten Tag überstanden, stellte sie zufrieden fest. Nun denn, bete und leg dich schlafen!

      Sie kniete nieder und sprach die Abendgebete, machte dabei die herkömmlichen Zeichen und Bewegungen. Gewöhnlich pflegte sie, erschöpft von der schweren Tagesarbeit, diese Gebete abzukürzen. Nun zog sie sie in die Länge. Doch auch das langsam gesprochene Gebet endet einmal.

      Sie legte sich auf die Seite, deckte sich mit ihrem Mantel zu, rollte sich zusammen und bettete den Kopf auf den Arm. Sonst schlief sie ein, kaum dass sie lag. Heute blieb sie wach. Sie war nicht müde genug. Nicht die vertraute Schwere in den Gliedern, nicht das ruhige Gefühl eines gelungenen Tagwerkes.

      Der Granitgrus, mit dem der Boden des Grabes bedeckt war, drückte ihr hart in die Seite. Ihr war kalt. Fröstelnd zog sie den Mantel über die Schultern. Warum hatte sie eigentlich kein Kissen mit ins Grab genommen? Und keine Decke?! Lüre hatte nicht gesagt, dass auch Kälte und schlechter Schlaf vonnöten seien, damit sie den Müttern und Ahnen begegnen konnte.

      Sie wälzte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Der Boden war kalt. Ihr Bett jetzt daheim –

      Unwillig