Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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      »Wie lang deine Haare gewachsen sind«, sagte Temos schüchtern.

      Lykos drehte sich um. Seine Augen blitzten. »Es ist ja auch schon sechs Sommer her, seit ich zum ersten Mal einen Mann getötet habe und sie wachsen lassen durfte! Aber was ist mit dir? Ich war nicht viel älter als du, als ich zu den Wölfen ging und das Haar geschoren bekam! Wie lang willst du noch im Kinderhaar herumlaufen?«

      Temos wurde rot. »In einem Jahr will ich mich den Proben unterziehen!

      Lykos nickte. »Na dann!«

      »Sag mir, Lykos«, begann der Junge und brachte dann stockend hervor: »Sind die Proben sehr schwer?«

      »Nicht sehr!« erwiderte Lykos mit beißendem Spott. »Sie machen dich stark – oder sie bringen dich um!«

      Temos wurde bleich. Lykos lachte: Warte nur, Kleiner, aus dir wird auch noch ein Mann! »Jetzt komm! Schieb!«, befahl er. Er beugte sich nach vorn, zog an der Last und ging stetig voran. Die Erinnerung ging mit ihm:

      Er trug noch seinen Kindernamen und das Kinderhaar. Er war ein Prüfling. Und er fürchtete sich.

      Alles hatte er ertragen: die einsamen Tage und Nächte im Wald, die harten Waffenübungen, die tagelangen Gewaltmärsche, die Hetzjagden, bei denen er mit den Hunden hatte Schritt halten müssen, das nächtliche Wachen, den Hunger, den Durst, das Schweigen, die immer neuen Erniedrigungen durch den Meister und die Wolfskrieger. Zahllose Tode war er gestorben, und ebenso oft hatte er zitternd sein wiedergewonnenes Leben in Empfang genommen. Und nun hing er hier gefesselt in der Eiche, wie einst der göttliche Krieger gefesselt hing im Weltenbaum. Die letzte Prüfung sollte er bestehen und sein Blut opfern. Aber da waren keine Ehrfurcht, kein Stolz und kein Mut. Da war nichts als Angst.

      Wenn er schrie, wenn er nur einen Laut von sich gab, würde er sterben. Ein bösartiges Zischen hinter ihm, schrecklich vertraut. Er zuckte zusammen, sein Körper erkannte den Schmerz, noch ehe die lange Rute ihn zum ersten Mal traf. Ein Hieb nach dem anderen brannte sich in seinen Rücken, fraß sein Fleisch.

      Er presste die Zähne zusammen, die Lippen aufeinander . . .

      Durch die Macht der Schläge hin und her gebeutelt, wurde er an den Baumstamm geschleudert. Kein Atemholen. Blut rann warm an ihm herab, tropfte in den schwarzen Boden. Die Totenhunde, Hüter des Reiches der ruhmlosen Toten, leckten es auf. Ihre Augen glühten. Sie fletschten die Zähne, knurrten. Sie warteten, dass er schrie.

      Rote Nebel vor seinen Augen. Göttlicher Krieger, dein Tod, mein Tod. Mach ein Ende. Aus dem roten Nebel wurde die Sonne geboren, drehte sich in rasendem Wirbel, schrillte in gleißendem Weiß.

      »Du hast alle Proben bestanden«, sagte Temos.

      »Sonst wäre ich kein Wolfskrieger!«, erwiderte Lykos knapp.

      »Erzählst du mir davon?«, bat der Junge.

      »Was fällt dir ein!«, fuhr Lykos auf. »Du weißt, dass kein Uneingeweihter von den Proben erfahren darf!«

      »Ich mein‘ ja auch nicht die Proben, sei nicht zornig, bitte, ich mein‘, was danach geschehen ist, was du als Wolfskrieger gemacht hast, was du eben erzählen darfst, bitte!«

      Die Ablehnung schon auf der Zunge, wandte Lykos sich zu dem Bruder um. Sah die hingebungsvolle Bewunderung in dessen Gesicht. Und konnte nicht widerstehen.

      »Na gut. Also hör. Aber vergiss das Schieben nicht dabei!« Lykos zog gleichmäßig an dem Lastschlitten. Er setzte seinen Stolz darein, trotz der Anstrengung nicht zu keuchen, und erzählte dabei im Tonfall der Geschichtenerzähler, als sitze er am Feuer im Kreis der Krieger:

      »Als ich die harte Zeit der Prüfungen hinter mir hatte und mit geschorenem Kopf in den Bund der Wolfskrieger aufgenommen war, schämte ich mich, mir täglich den Kopf rasieren zu müssen. Und ich setzte alles daran, die letzte Probe meiner Mannbarkeit abzulegen und im Kampf einen Mann zu töten. Also schloss ich mich einer Zwölferschar von Wolfskriegern an und beteiligte mich an einem Überfall auf ein Dorf des Alten Volkes. Es war das erste Mal, dass ich eines ihrer Dörfer sah. Aber ich war zu jung und zu unerfahren, und statt im Kampf einen Mann zu töten, wurde ich selbst verwundet. Die Wolfsbrüder lachten über mich. Die Schmach raubte mir beinahe den Verstand. Und ich schwor, allein im Wald zu leben, bis ich das Recht erworben hätte, das Haar wachsen zu lassen.«

      Der Bruder gab einen erstickten Laut von sich.

      »Viele Monde vergingen, die ich einsam verbrachte. Ich grub mir Erdlöcher und schlief darin wie eine Wölfin, ich ertrug die Kälte des Winters und den Regen des Frühjahrs. Ich folgte der Fährte von Ur, Wildschwein und Hirsch und der Spur von Wolf und Bär, unzählige Male sah ich bei der Jagd dem Tod ins Auge, forderte ihn heraus, wie es dem göttlichen Krieger gefällt. Pausenlos übte ich mich im Bogenschießen und im Gebrauch der Streitaxt. Erst als ich sicher sein konnte, dass ich bereit war, suchte ich mir eine neue Prüfung. Und da ich bei der ersten Prüfung so schändlich versagt hatte, wählte ich die zweite Prüfung schwer.«

      »Wie schwer?«, flüsterte Temos mit Schaudern.

      »Ich griff zwei kräftige Bauern an, die im Wald Bäume fällten. Zwei Beile gegen meine Axt, zwei starke Männer gegen einen Wolf. Ich habe sie beide getötet.«

      »Du hast sie beide getötet«, wiederholte Temos andächtig.

      Lykos hielt an, ließ den Gürtel los, mit dem er den Lastschlitten gezogen hatte, streckte die schmerzenden Schultern und dehnte die Brust. Er spürte wieder den Augenblick, in dem er den Schaft der Waffe umfasst hatte und die göttliche Wut über ihn gekommen war wie immer in diesem Augenblick der Verwandlung, er spürte die Raserei jenes Kampfes und dann das tiefe Glück, als ihm bewusst geworden war: Er hatte sein Leben bis zum Äußersten gewagt und die Probe erfüllt. Er hatte dem göttlichen Krieger gedient. Denn in nichts offenbarte sich die Macht und Herrlichkeit der Himmlischen mehr als in der Gewalt über Leben und Tod. Er war ein vollgültiger Wolfskrieger geworden.

      »Danach schloss ich mich mit den vier Wolfsbrüdern zusammen, die du gesehen hast, und wir sind noch heute eine Schar«, sagte er zufrieden. Die Augen des Bruders hingen an ihm.

      »Und dann? Vater sagt, du hast viele Heldentaten vollbracht. Aber nie erzählt er mir etwas davon! Was hast du alles gemacht?«

      Lykos grinste. »Alles? Da würde ich morgen noch reden! Nur so viel: Wir üben uns in der Jagd. Wir folgen dem König, wenn er uns ruft. In jedem Kampf sind wir die, auf die er zählen kann. Auf sein Geheiß schließen wir uns zu größeren Scharen zusammen, werfen uns Raubzügen des Nachbarstammes entgegen und messen uns mit den mächtigen Bärenkriegern der Cor. Längst habe ich aufgehört zu zählen, wie viele Männer ich getötet habe..

      »So viele?«, stammelte Temos.

      Lykos nickte. Der Bruder war nur ein Knabe. Dennoch tat seine Bewunderung wohl. Freundlich fuhr Lykos fort: »Für den König rauben wir Vieh im Nachbarstamm der Cor oder beim Alten Volk. Ich kann dir nicht sagen, wie viele Rinder, Ziegen und Schafe wir ihm schon zugetrieben haben. Mit der Opferung des von uns geraubten Viehs werden die Himmlischen geehrt. So bringen wir den Segen über das ganze Land. Doch vor allem dienen wir dem göttlichen Krieger, denn wir sind ihm geweiht. Wehe dem, der sich uns in den Weg stellt. Ur oder Bär, Keiler oder Wolf, Krieger oder Heer, wir fürchten nichts und niemanden. Kein Tier ist uns so wild, kein Mann so wehrhaft, dass wir vor ihm das Weite suchen würden. Und was mich betrifft – die Ruhmeslieder meiner Heldentaten werden bei den Gastmählern gesungen.«

      Temos holte tief Luft. »So will ich auch einmal werden!«

      »Ja? Dann beweis erst mal, dass du