Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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kämpften sie sich nun voran. Der Junge mühte sich spürbar ab und keuchte vor Anstrengung, als sie endlich vor der Hütte im Wald anlangten. Klein und dürftig war sie, aus Rinde und Zweigen nur flüchtig erbaut. Mehr brauchte es nicht für das harte und unstete Leben von Wolfskriegern. Enttäuscht stellte Lykos fest, dass die Hütte leer war. Die vier Wolfsbrüder waren auf der Jagd. Er zuckte die Achseln: Also kein Rühmen der gefahrvollen Begegnung mit dem Keiler, kein Abschied unter Brüdern.

      Er meißelte und brach dem Keiler die Stoßzähne aus – er würde sie um den Hals tragen, die prächtigsten Hauer, mit denen sich je ein Mann geschmückt hatte, länger als seine ausgestreckte Hand –, legte einen Lendenschurz, den Waffengürtel und den roten Mantel der Wolfskrieger an, rollte den heiligen Wolfspelz in ein Bündel, hinterließ den Freunden ein geheimes Zeichen, dass sie ihm zum Hof seines Vaters folgen sollten, und winkte Temos. Mit der Geschwindigkeit eines trabenden Pferdes lief er vor dem Jungen her durch den Wald, leicht und ohne Anstrengung.

      Was hatte er sich einst als Knabe gequält, wenn der Vater verlangt hatte, dass er ihm beim Ausritt folgte und hinter dem Hengst herlief! Lange hatte er nicht mehr an seine Kindheit gedacht. Jetzt kehrte die Erinnerung zurück.

      Er fuhr aus dem Schlaf, trunken vor Müdigkeit. Im schwachen Schein des Herdfeuers sah er den Vater an seinem Lager. »Steh auf!«

      Glühender Schreck durchzuckte ihn. Schlagartig war er hellwach. Hatte er eine seiner Pflichten vernachlässigt? War dem Vater etwas über ihn zu Ohren gekommen? Wenn er wüsste, was es war! Seine Gedanken jagten und fanden keinen Halt.

      »Mein Pferd!«, befahl der Vater.

      Er sprang auf die Beine, zitternd. Er holte den Fuchs, hielt dem Vater die Zügel hin. »Du folgst mir!«, sagte dieser, schwang sich auf den Rücken des Hengstes.

      Hinter dem Pferd rannte er durch die mondhelle Nacht. Nur mit äußerster Mühe hielt er Schritt. Dennoch hätte er lachen mögen vor Erleichterung. Sie kamen zur Koppel. Ein Knecht erwartete den Vater mit der Fackel in der Hand. Die weiße Stute lag zitternd am Boden. Die Hinterbeine eines Fohlens ragten aus ihrem Leib.

      »Es steckt fest«, klagte der Knecht. »Ich bekomme es nicht heraus, Herr!«

      Der Vater ließ sich auf ein Knie nieder, stützte sich ab, umfasste die Fesseln des Fohlens und zog. Vorsichtig und doch mit äußerster Kraft. Die starken Muskeln in seinem Nacken, an seinen Armen traten hervor. Er zog das Fohlen ans Licht.

      Da lag es. Blutig, das weiße Fell nass und verklebt, noch halb von der Fruchtblase bedeckt. Aber so vollkommen wie nur je ein Fohlen. Die Stute leckte es ab. Schauer liefen ihm, dem Knaben, über den Rücken. Das Fohlen mühte sich, auf die Beine zu kommen.

      »Es hat starke Fesseln«, sagte der Vater und wischte sich die Hände am Gras. »Es wird einmal ein prächtiger Schimmel. Und du, mein Sohn, darfst für es sorgen, du ganz allein!«

      Er hatte dieses Fohlen geliebt wie kein anderes. Es war sein Lebensinhalt gewesen, seine Rettung. An dessen Hals hatte er die Tränen geweint, die niemand sehen durfte. Und es war wirklich ein prächtiger Schimmel geworden. Später hatte der Vater selbst den Hengst zugeritten und zu seinem bevorzugten Reittier gemacht.

      Lykos lächelte. Er freute sich, das Tier wiederzusehen. Mehr als den Reiter.

      Die Sonne überschritt den Höhepunkt. Noch immer lief Lykos unverändert schnell und mühelos. Die Schritte des Jungen hinter ihm wurden ungleichmäßig, sein Atem ein verzweifeltes Hecheln. Dann stockten sie.

      Lykos wandte sich um. Der Junge war zu Boden gesunken, krümmte sich zusammen und röchelte. Sein Gesicht war weiß wie gebleichtes Leinen. Lykos zögerte: Das geht vorbei. Vater würde nicht auf Temos warten. Auch ich war mehr als einmal so am Ende wie er, und keiner hat mir geholfen. Dennoch hob er schließlich den Bruder auf, lud ihn sich auf die Schultern und lief mit ihm weiter. Erst als sie aus dem Wald herauskamen und vor sich das Gehöft des Vaters sahen, stellte er den Jungen wieder auf die Füße. »Danke«, sagte Temos leise. Er wurde rot vor Scham. »Behältst du es für dich?«

      Lykos lachte: »Unter Brüdern!« und gab ihm einen Stoß in die Seite. Gemeinsam liefen sie auf den Hof zu.

      Am Tor im Palisadenzaun blieb Lykos stehen: Ort meiner Kindheit. Alles wie einst – und doch fremd. Das Haus. Die Flechtwand ist neu getüncht. Und das Schilfdach, war es nicht früher viel höher?

      Als Kinder sind wir hinaufgeklettert und hinuntergerutscht, Hairox und ich. Unten hatten wir uns einen Laubhaufen aufgeschüttet, es war der größte Spaß, natürlich war es verboten, wir haben es nur getan, wenn Vater bei den Herden war, aber dann hat Noedia es Vater zugetragen, und der hat mich an den Zaun gebunden, halbtot geprügelt und –

      Der Verschlag. Drei Schritte lang, keine zwei Schritte breit. Das Knarren, wenn die Speichertür sich öffnet. Nicht wissen: Kommt er, um mich zu begnadigen. Oder um

      Lykos‘ Blick hing an dem Speicher, an der Ecke, die den Verschlag barg. Schwer hämmerte sein Herz. Unwillig zog er die Augenbrauen zusammen. Ich war ein Kind, damals. Das ist längst vorbei, und Schlimmeres habe ich seither ausgehalten. Er riss den Blick los.

      Dort der Windschutz über dem Mahlstein. Wenn es geregnet hat, haben wir uns darunter zusammengekauert, Hairox und ich, er hat damit geprahlt, dass er bald Wolfskrieger würde. Er war viel älter als ich – was habe ich ihn bewundert, ihn, meinen großen Freund!

      Meine Schwester musste manchmal als Strafe Getreide mahlen. Und dann, als Vater die neue Nebenfrau genommen hatte, Kugeni, die junge aus dem Westen geraubte Fremde vom Alten Volk …

      Es war ein heißer Spätsommertag. Die Hitze flimmerte über dem Hof. Still und ausgestorben lag er da. Der Vater, die Knechte und Brüder waren bei den Herden, Noedia mit den Mägden im Gemüsegarten, die Mutter bei der Nachbarin. Nur Kugeni kniete dort am Mahlstein, an Händen und Füßen gefesselt und an den Pfosten gebunden.

      Kugeni, Vaters neue Nebenfrau. Sie war noch nicht lange am Hof. Und doch ein ganzes neues Leben lang. Kugeni – was für ein Name, seltsam und wunderbar zugleich. Seltsam und wunderbar wie alles an ihr. Er spürte ihre Nähe, auch wenn er sie nicht sah. Sie füllte seine Gedanken aus, seine Träume.

      Hab ein Auge auf sie, hatte der Vater befohlen, wenn sie unbeobachtet ist, könnte es ihr gelingen, ihre Fesseln zu lösen und wegzulaufen. Ein Auge auf sie! Wenn der Vater wüsste! Er ließ sich im Hausschatten nieder und lehnte sich an die Wand. Er schnitzte an einem Pfeil. Aber immer wieder sah er zu Kugeni hinüber. Nun endlich konnte er sie betrachten, ohne fürchten zu müssen, dass der Vater seinen Blick sah – und verstand. Kugeni mahlte. Es war grausam vom Vater, sie bei dieser Hitze den ganzen Tag am Mahlstein arbeiten zu lassen, da doch die Schwester jammerte, schon nach einem halben Tag Mahlen fühle man sich wie zerschlagen. Und sie dann auch noch zu fesseln! Und letzte Nacht hatte er sie geschlagen! Aber so war er, der Vater.

      Wenn es nach ihm selbst ginge, dann würde er ihr die Stricke abnehmen, und sie dürfte sich ausruhen, sooft sie wollte. Auf dem Bett liegen und schlafen, so, wie er sie in jener Nacht im Feuerschein gesehen hatte, als er sich für einen wahnwitzigen Augenblick an