Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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sie sich hin und stützte den Kopf auf die Knie.

      Wenn ich wenigstens Spinnrocken und Spindel hätte! Wie viel Wolle könnte ich in den vier Tagen spinnen …

      Es war Schlafenszeit. Die Mutter hatte ihr längst erlaubt, die Spindel wegzulegen und sich zur Ruhe zu begeben. Sie tat es nicht. Sie blieb im Winkel des Raums der Mutter sitzen und spann Flachs, obwohl ihre Finger schon wund wurden. Denn da am Feuer war der Händler mit seinen Geschichten.

      »Riesige Viehherden haben sie, die Söhne des Himmels, Ziegen, Schafe, Schweine und Rinder, vor allem Schafe und Rinder. Und dann die Pferde! Sie reiten auf Pferden, wenn sie ihre Herden durch den Wald treiben, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Aber das andere, das habe ich nicht gesehen. Nur gehört.«

      Er beugte sich vor und dämpfte die Stimme: »Männer gibt es bei denen, die sind in Wahrheit gar keine Menschen. Sie sind Wölfe, die Menschengestalt annehmen! Sie trinken Blut und begehen Gräueltaten, von denen kann ich nicht reden, nicht hier vor dem Kind …« Er warf ihr einen missbilligenden Blick zu.

      »Haibe, bist du immer noch nicht schlafen gegangen?« Die Mutter drehte sich um. »Jetzt aber schnell, Kind, geh!«

      Sie folgte dem Befehl nur halb, zog die Tür hinter sich nicht ganz zu, blieb lauschend stehen. »Immer erzählst du nur von den Männern der Söhne des Himmels!«, warf die Mutter dem Händler vor. »Erzähl doch mal von den Frauen!«

      Dieser stieß einen seltsamen Laut aus. »Von denen gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte er verächtlich. »Außer vielleicht, dass sie viel Zeit für das Kochen verwenden und beinahe täglich Fleischgerichte zubereiten. Und dass sie schöne Stoffe weben. Aber die verkaufen sie nicht selbst. Die Männer sind es, mit denen wir unsere Geschäfte machen. Wenn man den Frauen begegnet, so heben sie nicht den Blick und sprechen einen nicht an. Bei den Gastmählern bedienen sie, ohne selbst zu essen und ohne ein Wort zu sagen, und wenn man eine Unterhaltung mit ihnen anfangen will, läuft man Gefahr, von den Männern aus dem Haus geworfen zu werden.«

      Die Mutter lachte. »Ach geh, du willst mich auf den Arm nehmen! Die Sippenmutter muss dich doch wenigstens in ihrem Haus willkommen geheißen und das Brot mit dir gebrochen haben!«

      »Bei denen gibt es keine Sippenmutter, nur einen Mann, der der Sippe vorsteht, den alle fürchten und dem alle gehorchen, und es ist nicht ihr Haus, sondern seines!«

      Haibe schüttelte den Kopf. Wie lang hatte sie nicht mehr an diese alten Geschichten gedacht. Doch gewöhnlich hatte sie ja auch nicht die Zeit, vor sich hin zu träumen.

      Wenn der Schlaf sie sowieso floh, konnte sie auch weiterträumen.

      Der Raum der Mutter überfüllt. Dicht gedrängt saßen sie um die Feuerstelle, die Mutter und die Tanten, die Oheime und die Mugas, die Geschwister, Kusinen und Vettern, auch einige Frauen der Koa. Und der Händler, der im Haus der Mutter zu Gast war und auf dessen Neuigkeiten jeder gespannt war. Sie aßen ein Festmahl, bei dessen Zubereitung sie selbst geholfen hatte und von dem sie jeden Bissen genoss: zum Weizenbrot Linsensuppe mit Räucherspeck, dann eine Gerstengrütze mit Wassernusssamen, Kräutern, Gemüsen und kleinen Flusskrebsen und schließlich honiggesüßtes Apfelmus mit gekochten Preiselbeeren, Haselnüssen und schaumig gerührter Sahne.

      Der Händler bedankte sich bei der Mutter wortreich für die Gastfreundschaft. Dann sagte er: »Ich will euch etwas zeigen, was ihr wohl noch nie gesehen habt. Oder ist einer unter euch, der schon einmal eine Axt der Söhne des Himmels in Händen gehalten hat?«

      Alle gaben ihrer Neugier Ausdruck. Der Händler holte mit wichtiger Geste aus seinem Korb eine Axt hervor und zeigte sie herum. Besonders die Männer wogen die Axt in der Hand und prüften die glatt geschliffene Steinklinge. Endlich kam die Reihe an Haibe.

      Die Axt war schwer. Aber längst nicht so schön wie die Doppelaxt des Großen Oheims, deren beide Schneiden wie zwei Halbmonde geformt waren: der zunehmende Mond und der abnehmende. Keines Blickes hätte sie diese fremde Axt gewürdigt, wenn es nicht eine Axt der Söhne des Himmels gewesen wäre.

      Sie hielt sie noch immer. Da sagte der Große Oheim: »Eine seltsame Axt. Ohne jeden tieferen Sinn. Wie soll sie taugen, ein Tier für das heilige Opfer zu töten?«

      Haibe blickte von der Axt auf, zum Oheim und dann zum Händler. Dieser machte ein merkwürdiges Gesicht und erwiderte: »Dafür ist sie nicht gedacht, diese Axt. Es ist eine Waffe der Söhne des Himmels, geschaffen nur für einen Zweck: einem Mann den Schädel damit einzuschlagen. Und dafür taugt sie sehr gut. Vor allem in der Hand eines Kriegers, der sich seit frühester Jugend darin geübt hat!« Haibe ließ die Axt fallen, starrte auf ihre Hände. Auf einmal zitterte sie. Im Raum war es totenstill.

      Haibe drängte sich durch die Reihe der anderen, drängte sich an die Mutter. Die Mutter legte die Arme um sie, drückte sie an sich und gewährte ihr die Sicherheit und den Schutz, die nur sie gewähren konnte. Dicht an Haibes Ohr sagte sie leise: »Du musst dich nicht fürchten, Liebes! Sie sind weit im Osten, die Söhne des Himmels. Niemals werden sie über das große Moor und den See und die Sandberge kommen bis in unser Land!«

      Haibe schüttelte den Kopf. »Ach Mutter, du hast dich getäuscht! Oder hast du nur mich getäuscht? Wolltest du eine Last von einer Kinderseele nehmen, weil diese zu schwach war, sie zu tragen? Zirrkan und die alte Priesterin müssen sie tragen. Und wenn noch Frauen leben sollten aus ihrem Dorf, wenn Kugeni noch lebt, dann die erst recht! Sie sind nicht im Osten geblieben, die Söhne des Himmels! Das große Moor und der See haben sie nicht aufgehalten! Nur die Sandberge trennen uns noch von ihnen. Nur die Sandberge, da hattest du recht, die Sandberge halten sie auf.« Sie brach ab. Sie konnte es nicht aussprechen, nicht hier in der Finsternis.

      Aber nie würde sie vergessen, wie Zirrkan nach der langen Trennung so furchtbar verändert in ihr Dorf gekommen war und davon berichtet hatte, dass er seine Mutter zu den Heiligen Steinen begleitet und bei seiner Heimkehr das Dorf seiner Sippe zerstört vorgefunden hatte: eine Stätte grauenhafter Verwüstung. Nicht ein Haus hatte mehr gestanden – nur verbrannte Trümmer. Nicht ein Mensch hatte mehr gelebt – nur erschlagene, durchbohrte oder verkohlte Leichen von Männern und Kindern.

      Nicht ein Überlebender, der berichten konnte, was geschehen war. Aber die unmissverständliche Sprache der Spuren, und in der Eiche am Dorfplatz eine blutige Streitaxt der Söhne des Himmels: höhnisches Zeichen ihrer triumphierend eingestandenen Tat.

      Zirrkan hatte kaum sprechen können, als er erzählte, dass er die Kinder seiner Frau und die seiner Schwester mit gespaltenem Schädel oder erwürgt vorgefunden habe. Seine Frau und seine Schwester aber habe er nicht gefunden – nicht eine Frau, nicht ein junges Mädchen.

      Später hatten sie erfahren, dass Zirrkans Dorf nicht das einzige gewesen sei. Dass noch mehrere östlich der Sandberge gelegene Dörfer auf die gleiche grauenerregende