Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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Wenn ihr Vater sie nun schon einem anderen versprochen hat! Ihr Vater ist einflussreich genug, sich jeden Schwiegersohn wählen zu können, den er nur will.

      Er merkte kaum, was er aß und trank. Wenn ihr Vater sie mir nicht gibt! Seine Gefährten redeten von dem morgendlichen Überfall auf die Bauernhöfe hinter dem Schwarzmoor. Genussvoll rühmten sie jede einzelne Gewalttat. Er beachtete es nicht.

      Andere Krieger gesellten sich zu ihnen, hörten zu, lachten beifällig. Das Mädchen kam auf sie zu, ein großes Tablett mit gebratenen Wildgänsen in Händen. Mit einem Ohr merkte er, dass die anderen über ihn sprachen. »Und ihr hättet sehen sollen, wie Lykos sich die Weiber vorgenommen hat!«, lachte einer der Freunde. »Fragt ihn doch mal, wo er die Kratzer her hat, ich sag‘ euch …«

      »Halt den Mund!«, fuhr Lykos ihn grob an.

      »Was hast du, du magst doch sonst …«

      »Heute nicht!«

      Das Mädchen neigte sich, stellte das Tablett ab. In Lykos‘ Schläfen pochte das Blut. Er trank seinen Becher in einem Zug leer.

      Der König stand auf, verließ den Kreis der Familienhäupter und Priester und kam auf die Wolfskrieger zu, ein Trinkhorn in der Hand. »Meine Treuen! Meine Helden!«, sagte er und ließ sich in ihrer Mitte nieder. »Trinkt mit mir!« Er nahm einen Schluck und reichte das mit Met gefüllte Horn des Auerochsen weiter. Ein Wolfskrieger nach dem anderen trank, bestätigte so den Bund der Gefolgschaft mit dem König.

      Das Trinkhorn machte die Runde, kehrte in die Hand des Königs zurück. Dieser leerte es vollends, sah reihum jeden einzelnen Krieger an. Lykos erwiderte den Blick wie gewohnt. Ihm schien, dass der König ihn länger ins Auge fasste als die anderen. »Glücklich ein König wie ich, der auf Gefolgsleute bauen kann wie euch«, sagte dieser.

      Lykos straffte sich. Jetzt galt es, auf der Hut zu sein. Etwas bahnte sich an.

      »Vor allem in Zeiten wie diesen«, fügte der König hinzu.

      In Zeiten wie diesen? Was meint er damit?, überlegte Lykos und entschloss sich zu einem wissenden, gedankenschweren Nicken.

      Der König nahm dieses Nicken aufmerksam zur Kenntnis und fuhr fort: »Ihr lebt weitab von den Geschäften der Familienhäupter, habt euch nicht darum zu sorgen, wie die Herden gedeihen und wie das Korn wächst, sondern wie ihr den Reichtum durch Viehraub vergrößern könnt.«

      Die meisten Wolfskrieger lachten beifällig, doch Lykos erschien es besser, Ernst zu zeigen. Der König beobachtete ihn, und bald sollte er, Lykos, Mitglied im Königsrat sein. Wenn er seine Befähigung dazu zum Ausdruck bringen könnte. Was hatte noch der Vater auf die Frage nach den Herden geantwortet?

      »Das Leben im Wolfsbund hindert uns nicht daran zu bemerken, dass im Frühjahr der Regen ausgeblieben ist und auch dieser Sommer zu heiß und zu trocken ist. Ich fürchte, die ungewöhnliche Trockenheit lässt das Futter für die Herden knapp, die Tränken rar und die Ernteerträge gering werden«, warf er ein.

      Der König betrachtete Lykos überrascht. »So ist es. Ungewöhnlich für einen Wolfskrieger, sich derlei Gedanken zu machen. In der Tat beginnen wir uns im Königsrat zu fragen, ob dieses Land uns und unsere Herden noch tragen kann. Ich habe dem Himmelsvater große Opfergaben gebracht, angerufen habe ich ihn. Unsere Priester haben ihn im Orakel um Weisung angefleht. Strafend kam seine Stimme im Donner zu uns, und sein Zorn fuhr im Blitz hernieder: Wir seien nicht würdig, seine Söhne zu heißen, wenn wir in solcher Lage zweifelten, was zu tun sei. So hat nun der Königsrat beschlossen, dass wir unser Land ausdehnen und einige angrenzende Landstriche des Gebietes des Alten Volkes in Besitz nehmen. Der Königsrat beauftragt euch Wolfskrieger, einen kurzen, aber wirkungsvollen Kriegszug tiefer ins Land des Alten Volkes hinein zu führen als je zuvor. Seid ihr bereit?«

      Die Wolfskrieger sprangen auf, schlugen sich an die Brust. »Wir sind bereit!«, riefen sie. Lykos schrie am lautesten.

      »So habe ich es von euch erwartet«, erklärte der König und erhob sich. Trat einen Schritt auf Lykos zu. Musterte ihn. »Lykos, knie nieder!«

      Lykos tat es. Ahnte, was dies bedeutete. Wagte es dennoch kaum zu glauben. Der König zog seine kupferne Streitaxt, dies funkelnde Sinnbild seiner Macht, und berührte damit Lykos‘ Schultern. »Ich rufe an die siegreiche Sonne. Ich rufe an das strahlende Rad der Sonne. Ich rufe an die alles sehende Sonne, den heiligen Späher, zum Zeugen meiner Entscheidung: Lykos, Sohn des Nuerkop, ich ernenne dich zum Anführer dieses Kriegszuges!« Lykos dehnte die Brust.

      Der König fuhr fort: »Trag ihn weit nach Westen ins Land des Alten Volkes hinein! Über die Sandberge. In eine Gegend, in der die Bauern unsere Streitäxte noch nicht geschmeckt haben! Ihr sollt den Schrecken vor unserer unbesiegbaren Stärke in ihre Gemüter pflanzen, ihr sollt ihrem Gedächtnis unauslöschlich einprägen, dass niemand sich uns in den Weg stellen kann, keiner!«

      Die anderen Krieger brachen in Jubel aus. Lykos aber erfüllte mit einem Mal ein tiefer Ernst. Er sollte der Anführer sein. Das war die Aufgabe, auf die er immer gehofft hatte. Feierlich erhob er sich.

      »Wir sollen Beute machen?«, fragte er in die Augen des Königs hinein. »Vieh, Frauen, Getreide?«

      »Gewiss«, erwiderte der König ruhig, »das auch. Doch vor allem sollt ihr diesen Bauern und ihren halsstarrigen Weibern klarmachen, dass wir in ihr Land kommen werden. Als Herren. Und dass verloren ist, wer sich uns nicht unterwirft! Zeigt ihnen, wozu rasende Wölfe fähig sind!«

      »Sie werden es nicht vergessen«, bestätigte Lykos. »Ihr erwartet, dass wir einen blitzartigen Überfall auf einige Dörfer tief im Land des Alten Volkes machen? Uns ebenso plötzlich wieder zurückziehen? Eine Zerstörung hinterlassen, die für sich selber spricht? So den Boden bereiten für eine neue Landnahme?«

      »Du begreifst schnell«, sagte der König wohlgefällig. »Doch setzen wir uns wieder! Ich will, dass jeder von euch sich über eines klar ist: Ihr sollt diese Bauern hinter den Sandbergen das Fürchten lehren, damit wir ihr Land in Besitz nehmen können, ohne uns um die Sicherheit unserer Familien zu sorgen. Wenn euer Kriegszug vorüber ist, werden einige unserer Familien nach Westen ziehen. Keiner vom Alten Volk soll es wagen, ihnen das Recht streitig zu machen, Höfe zu errichten, Felder und Gärten anzulegen und das Vieh in die Wälder zu treiben. Keiner soll es wagen, auch nur einer Frau oder einem Kind der Söhne des Himmels zu nahe zu treten. Sie sollen wissen, was ihnen bevorstünde, wenn sie das täten. Jeder Bauer soll sich glücklich schätzen, ihnen Getreide und andere Abgaben liefern zu dürfen, um so ihren Schutz zu gewinnen. Damit wir dort mit dem Alten Volk zusammenleben können, wie wir es hier tun: als ihre unangefochtenen Herren. Das zu erreichen ist eure Aufgabe. Und deine vor allem, Lykos. Wenn du deinen Auftrag zu meiner Zufriedenheit ausführst, hast du einen Wunsch bei mir frei! Nenne ihn mir gleich, und ich will ihn dir gewähren, wenn du als Sieger zurückkehrst!«

      Lykos presste die Zähne zusammen. Ein Anführer der Wolfskrieger musste Entschlusskraft zeigen. Er durfte nicht lange überlegen, um welche Gunst er den König bitten sollte. Wenn er etwas wüsste, womit er den König beeindrucken könnte –

      Da erinnerte er sich an das Mädchen.

      »Wenn der Kriegszug Eure Erwartungen erfüllt, so werde ich Euch bitten, für mich bei Rösos um die Hand seiner Tochter zu werben. Euch wird er eine Werbung nicht abschlagen können!«

      Die Augen des Königs verengten sich. »Rösos‘ Tochter? Da doch jeder weiß, dass Rösos bald unser Oberpriester sein wird? Mit der Tochter von Rösos erkaufst du dir mehr Ansehen und Einfluss als mit jeder anderen Braut – außer mit meiner eigenen Tochter. Ich sehe, du wirst auch im Königsrat eine erhebliche Rolle spielen. Nun, du hast mein Wort. Wie ist ihr Name?«

      »Ihr Name? Ich weiß nicht. Ich habe sie vorhin zum ersten Mal gesehen, das Mädchen, das uns heute Abend bedient hat!« Lykos schaute um sich. Da sah er sie. Ganz dicht bei ihnen stand sie, einen Stapel sauberer Tücher an sich gedrückt, hatte alles gehört, stand und starrte ihn aus großen dunklen Augen an.

      Einen Herzschlag lang kreuzten sich ihre Blicke, dann schoss tiefe Röte in ihr Gesicht, sie senkte die Lider, drehte sich um und hastete davon.