Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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Mehl auf die flache Hand und blies es in die vier Winde. Dann malte er mit Mehl die Zeichen, mit denen die Göttin in der Gestalt der Großen Bärin verehrt wurde, auf den Boden und rief sie mit dem Lied seiner Trommel herbei.

       Sie selbst beobachtete genau, was er tat, sah, wie sein Körper unwillkürlich zu zucken und sich zu schütteln begann, als die heilige Kraft in ihn fuhr. Und spürte, wie etwas im Raum sich veränderte.

      Auf einmal war sie anwesend, zum Greifen deutlich: die Große Bärin. Zirrkan legte die Trommel beiseite und ließ sich am Kopfende des Bettes nieder. Eine Weile saß er ganz still da, mit geschlossenen Augen, die Hände vor den Lippen zusammengelegt. Dann nahm er behutsam den Kopf der Tante in seine Hände.

      Die Gesichtszüge der alten Tante verwandelten sich, verloren das krampfhaft Verzerrte, wurden weich und gelöst. Das wimmernde Stöhnen verstummte. Ruhig strömte der Atem der Kranken. Und sie, das Kind, stand da und dachte: Das will ich auch einmal tun. So heilen wie Zirrkan.

      »Was ist«, fragte Tante Gwinne, »solltest du nicht eigentlich am Brunnen oder im Gemüsegarten sein?«

      »O ja!« Naki schreckte auf. Wirrkon wartete auf sie! »Ich habe nur ein langes Seil gesucht.«

      »Nebenan an der Wand über dem Bett. Die Mäntel hängen darüber!«

      »Danke!«

      Wenig später war Naki mit dem Seil bei Wirrkon. Er knotete es an der hölzernen Brunnenumrandung fest und schwang sich über den Rand.

      »Pass bloß auf!«, meinte sie, plötzlich besorgt, als sie beobachtete, wie er an dem Seil in den tiefen Schacht einstieg, die Füße gegen die eine Seite gestemmt, den Rücken gegen die andere.

      Stück für Stück glitt er in die Tiefe. Mit angehaltenem Atem sah sie zu, wie er, über der Wasserfläche angelangt, nach dem Seil griff und wieder nach oben kletterte. »Schön kühl da unten!«, meinte er, als er endlich wieder an die Oberfläche kam und ihr das Ende des zerrissenen Seiles reichte.

      »Danke, Wirrkon!«

      »Keine Ursache!«

      Sie sah ihm nach, wie er zur Baustelle zurückging. Einen Bruder zu haben wie Wirrkon. Mit ihm an der Seite ließen sich einmal alle Schwierigkeiten meistern und die Geschicke einer Sippe lenken, so wie es jetzt die Mutter und Oheim Ritgo taten.

      Schön wäre das. Und doch war da das Gefühl, dass es nicht so kommen würde. Dass ihre Bestimmung etwas anderes war.

      Naki zog den Eimer hoch, knotete das neue Seil an seinen Henkel und machte sich wieder ans Wasserschöpfen. Ihre Gedanken aber waren bei Zirrkan. Sie stellte den gefüllten Eimer auf den Brunnenrand und setzte sich daneben.

      Seit jenem Tag in ihrer Kindheit, als sie Zirrkan zum ersten Mal heilen gesehen hatte, war sie an seiner Seite geblieben, wann immer er ins Dorf gekommen war und nach der Anrufung der Großen Bärin Kranken die Hände aufgelegt oder sie mit Nadelstichen, Kräutersud und ätherischen Dämpfen oder mit Operationen behandelt hatte – oder mit Hilfe seiner Trommel ihre Seelen im Niemandsland zwischen Leben und Tod gesucht und in ihren Körper zurückgeleitet hatte.

      Er hatte ihre Anwesenheit dabei geduldet, ohne etwas dazu zu sagen. Er hatte sie sogar zusehen lassen, als er Oheim Li geheilt hatte. Nach einer Kopfverletzung hatten sich Dämonen in Oheim Lis Kopf eingenistet und ihm qualvolle Kopfschmerzen bereitet. Da hatte Zirrkan mit seinem Steinmesser ein rundes Loch in dessen Schädelknochen geschabt und die Dämonen zum Entweichen gebracht. Und Naki hatte die Heilpflanzen zu einem Brei stampfen dürfen, mit dem er die Wunde wieder verschlossen hatte.

      Nach und nach hatte er sie immer mehr Handreichungen machen lassen und ihr die Wirkung mancher Kräuter erklärt. Aber nur ein einziges Mal, bei seinem letzten Besuch im Dorf, hatte er davon gesprochen, was hinter dem stand, was er tat. Von dem, was man nicht sehen konnte.

      Von dem Klang hatte er gesprochen, der in jedem Menschen schwinge und den es zu spüren gelte, wenn man die Hände auflege. Mit den Fingerspitzen – aber auch mit der Seele. Und dass man diesen Klang finden und aufnehmen und mit dem großen Lied der Lebenserhalterin verquicken müsse.

      Und dann hatte er es sie fühlen lassen.

      Zirrkan legte seine Hände an ihre Schläfen. Da lag sie in weichem Moos, sank tiefer und tiefer hinein, sah Bäume über sich, sah in die wogenden Wipfel, löste sich aus dem Moos, wurde hinaufgetragen, schwebte höher –

      Als er schließlich die Hände wieder von ihr löste, blieb sie liegen wie im Traum. Dann erhob sie sich und sagte: »Ich würde so gerne heilen wie du. Was muss ich tun, damit die Göttin mich dazu auserwählt?«

      Er schwieg lang. Dann sagte er: »Du kannst nichts dazu beitragen, Naki. Sie tut es oder sie tut es nicht. Ich muss zugeben, dass ich es bei dir sehr gut für möglich halte, deshalb lasse ich dich ja schon an so vielem teilnehmen. Aber ob ich es dir wünschen soll, das weiß ich nicht.«

      »Ist es so schwer?«, fragte sie, und ein Schauer kroch ihr den Rücken hinab.

      »Am Anfang ist es das. Jedem, den die Göttin erwählen will, fügt sie Schmerzen zu. Sie schickt einen durchs Feuer, bis man geläutert ist. Und der Einweihungsweg – er ist hart.«

      »Würdest du mich dabei begleiten? Würdest du mich alles lehren?«

       »Wenn das deine Berufung ist – gewiss.«

       »Dann fürchte ich mich nicht davor!«

      Er lächelte.

      Doch woher sollte sie wissen, ob die Göttin sie berufen hatte?

      »Naki, wo bleibst du so lang, meine Mutter wartet auf dich!«

      Naki zuckte zusammen, blickte auf. Uori war an den Brunnen gekommen. Naki füllte den zweiten Ledereimer, ging in die Knie, nahm das Joch auf die Schultern, an dem die beiden Eimer hingen, richtete sich langsam auf und balancierte vorsichtig die Wassereimer zum Gemüsegarten. Der kleine Rablu lief neben ihr her und versuchte die überschwappenden Wasserspritzer abzubekommen.

      Der Vormittag verging mit Wassertragen. Es wurde glühend heiß. Naki atmete erleichtert auf, als die Tante sie ins Haus schickte, um den Brei für die Mittagsmahlzeit zu erwärmen. Sie legte Holz auf die Feuerstelle und blies in die alte Glut. Als das Feuer wieder brannte, stellte sie den Topf mit der Grütze daneben, goss etwas Milch hinein und begann zu rühren.

      Warum hatte sie eigentlich niemals mit ihrer Mutter darüber gesprochen? Irgendetwas hatte sie immer davon abgehalten. Nun plötzlich drängte es sie dazu.

      Wenn die Mutter aus dem Grab zurückgekehrt war, würde sie mit ihr reden. Ob die Mutter ihr erklären könnte, woran man erkannte, ob man berufen war, und was mit den Schmerzen gemeint war, von denen Zirrkan gesprochen hatte? Oder ob sie entsetzt darüber war, dass ihre einzige Tochter nicht nach ihr Sippenmutter der Dala sein wollte, sondern eine von Dorf zu Dorf ziehende Heilerin?

      Naki drehte den Topf etwas, damit er sich auch von der anderen Seite erwärmte. Dann stand sie auf und trat in die offene Tür.

      Früher, bevor Zirrkan mit seiner Heilkunst in ihr Leben getreten war, hatte sie sich nichts anderes vorstellen können und nichts anderes gewünscht, als eines Tages so zu sein wie die Mutter. Und nun …

      Ohne es recht zu merken, ging sie vom Haus weg und schlug den Weg zum neuen Grab unter den Eichen ein. An ihrem Eichenschößling kauerte sie nieder und strich leicht über seine Blätter. Von den Steinen, die sie einst um