Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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      Sie kletterte die Eiche hinunter, sprang auf die Wiese, hob eine Eichel auf. Dann lief sie zum nahen Bach und suchte Kiesel, sammelte sie in ihrem Rock, trug sie zum Eichenhain. Sie kniete nieder, riss Gras aus, glättete die Erde, versenkte die Eichel darin und begann um die vergrabene Eichel herum eine lange Kammer aus Kieselsteinen zu errichten. Noch einmal musste sie zum Bach rennen, noch einmal Steine sammeln. Sie deckte Kiesel über die Steinkammer. Nur in der Mitte, über der Eichel, ließ sie sie offen. Dann ritzte sie den Umriss des Eies um die Kammer herum in den Boden, grub Kiesel in die vorgezeichnete Linie, füllte Erde dazwischen, drückte sie fest, glättete mit den Fingern ihr Werk.

      »Was hast du denn da gebaut, Naki?« Die Mutter setzte sich neben sie ins Gras.

       »Ein Ei«, erklärte sie.

      Die Mutter nickte. »Da oben fehlt aber noch ein Stein! Und Erde!«

      »Nein, das muss so sein. Weil der Baum aus dem Ei wachsen muss. Weil die Schlange aus dem Ei kriecht. Weil der Vogel im Baum wohnt.«

      »O Kind!« Die Mutter legte die Arme um sie, zog sie an sich, presste ihren Kopf an die Brust, drückte sie ganz fest, so fest hatte die Mutter sie noch nie gedrückt, es nahm ihr ja die Luft!

       Sie sträubte sich. »Lass mich!«

      Der Griff der Mutter lockerte sich. »Ja, ich lass‘ dich!« Die Mutter zog sich ein kleines Lederbeutelchen über den Kopf, das sie an einer Schnur unter ihrer Kleidung verborgen um den Hals trug, und legte es ihr, der kleinen Tochter, um. »Das schenke ich dir. Es ist ein Stein darinnen. Heb ihn gut auf. Es ist kein gewöhnlicher Stein. Ein ganz besonderer. Die Göttin ist in ihm. Nun wird Sie immer bei dir sein.« Die Mutter stand auf und ging.

      Naki fühlte nach dem Stein in seinem Beutel, spürte ihn zwischen ihren Brüsten.

      Das Ei, der Vogel und die Schlange – Zeichen der Göttin. Hatte die Göttin sich ihr damals offenbart – und ihr angekündigt, dass Sie sie in Ihre besonderen Dienste nehmen wollte? Und hatte die Mutter verstanden, was sie, das Kind, noch nicht einmal geahnt hatte?

      Ja, ich lass‘ dich. Plötzlich wusste sie: Ihr Wunsch würde die Mutter nicht unvorbereitet treffen. Schon damals hatte die Mutter begriffen, dass sie ihre einzige Tochter für den Dienst der Göttin freigeben musste. Und sie mit dem geweihten Stein dafür gesegnet. Könnte sie nur gleich mit der Mutter darüber reden, über alles!

      Naki ging zum Haus zurück. Sie öffnete die Tür. Beißend schlug ihr der Geruch von angebranntem Essen entgegen. Der Brei!

      Die Brüder, die Oheime, die Vettern und Kusinen, Tante Mulai und Tante Gwinne, alle waren im Raum. Und alle sahen sie an.

      »Ist ja ganz großartig, dass du auch schon da bist!«, sagte ihr Bruder Karu. »Kannst du uns verraten, wie man das Zeug runterbekommen soll?«

      »Tut mir leid!« Erschrocken sah sie auf den Brei. Sie hatte ihn ans Feuer gestellt und vergessen! Sie kostete davon, versuchte den Widerwillen zu unterdrücken. Es schmeckte wirklich sehr angebrannt. Nein, das konnte man niemandem mehr anbieten. Aber wegschütten durfte man es auch nicht – undenkbar.

      Naki sog an ihrer Lippe. Sie spürte, dass ihr Großer Oheim sie wartend ansah, und wusste, dass er ebenso wenig nachgeben würde wie Tante Mulai. Sie zögerte, holte tief Luft. »Ich esse es allein! In ein paar Tagen habe ich es geschafft. Ihr könnt ja heute mal Brot essen!«

      »Das können wir!« Tante Gwinne lächelte Naki an.

      Tante Mulai erklärte bestimmt: »Dann musst du heute Abend aber noch Mehl mahlen und Sauerteig ansetzen, Naki, damit wir neues Brot backen können!«

      Naki unterdrückte ein Stöhnen. Kurz sah sie zu ihrem Großen Oheim hin. Er nickte kaum merklich, stimmte mit den Augen zu.

      »Arme Schwester! Kein Glückstag für dich!«, sagte Wirrkon leise. Jeder wusste, dass sie das Mahlen hasste. Naki setzte sich neben ihn und zuckte die Schultern.

      Tante Mulai holte einen Laib aus dem Holzkasten, schnitt ihn in Scheiben, sprach den Segen darüber und stellte eine Schüssel mit Frischkäse dazu. Alle langten nach dem Brot und fuhren damit in den Käse. Nur Naki nicht. Und auch nicht Wirrkon. Er lud sich eine Schale voll Brei und löffelte ihn, ohne eine Miene zu verziehen. »Zur Abwechslung mal ein anderer Geschmack«, meinte er und grinste Naki an. Sie grinste zurück. Auf einmal machte es ihr nichts mehr aus, den Brei zu essen.

      »Ich werde mich sofort nach dem Essen auf den Weg machen«, ergriff der Große Oheim das Wort, »und das Schwein zu den Heiligen Steinen treiben. Dann bin ich zu Einbruch der Dunkelheit dort und kann es mit Lüre gleich morgen früh opfern. Auf dem Rückweg von den Heiligen Steinen will ich noch in einigen Dörfern Besuche machen. Vielleicht gelingt es mir, jemanden zu finden, bei dem wir gegen Gwinnes Töpferwaren Gerste oder Weizen eintauschen können, sonst wird es eng für uns im Winter. Ich bleibe wahrscheinlich ein paar Tage weg. Ihr kommt doch ohne mich mit dem Brunnen zurecht?«

      Oheim Aktoll nickte bedächtig. »Werden wir wohl, Ritgo! Was ist, Jungs, wollen wir uns nicht wieder an die Arbeit machen?«

      Die Jungen standen auf. Unmöglich, den Oheim warten zu lassen.

      Die Grenzen zwischen Wachen und Schlafen verwischten sich. Hatte sie eben etwas gehört, oder war es ein Traum?

      Unruhig wälzte Haibe sich herum, stieß an Knochen und Scherben, hatte nicht mehr die Kraft, sie beiseite zu schieben.

      Mit brennenden Augen durchforschte sie die Finsternis. Noch immer zeigte sich nicht die geringste Andeutung einer Lichtspur über dem Eingang. Ihre letzte Nacht im Grab nahm und nahm kein Ende.

      O Göttin, steh mir bei!

      Der Durst glühte in Augen, Nase, Mund und Rachen. Ihr ganzer Körper ein Schrei nach Wasser. Mit der ausgedörrten Zunge fuhr sie sich über die rauen Lippen: Sand auf dürren Blättern.

      Gnadenlos brannte die Sonne vom Himmel. Hitze flimmerte über dem Getreide. Glühend stand die Luft über dem sengenden Feld. Längst waren die Lieder verstummt. Nun versickerten auch die Gespräche, versiegten, wie der Bach versiegt war.

      Seite an Seite kämpften sie sich durch das Feld, alle Frauen und Mädchen des Dorfes. Ein Bündel Ähren mit der Linken zusammenraffen, mit der Sichel abschneiden, in den Korb werfen, weiter.

      Gewöhnlich war die Ernte ein Fest, Höhepunkt des Jahres. Doch heute war es nichts als eine Schinderei: jede Bewegung eine schier unerträgliche Last. Selbst die Ältesten konnten sich nicht an eine vergleichbare Hitze erinnern. Trocken klebte die Zunge am Gaumen, der Durst brannte in der Kehle.

      Die kleine Naki sammelte mit der kleinen Uori, Mulais Tochter, herabgefallene Ähren in einen Korb. Ihr Gesicht war hochrot. »Geh, Naki, lauf zum Brunnen, schöpf Wasser, trink und kühl dich! Und du auch, Uori!« Dankbar sahen die beiden Mädchen sie an, stellten den Korb ab, wandten sich erleichtert zum Gehen.

      Mulai richtete sich auf. »Aber dann kommt ihr zurück und bringt zwei Ledereimer Wasser mit!«, rief sie den Mädchen nach.

      Haibe strich sich den Schweiß