Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


Скачать книгу

auf sie zukommen. Die schlanke, schmale Gestalt. Er kann es nicht sein. Nicht nach acht Jahren.

      Sie starrte ihm entgegen. Ließ die Sichel sinken. Warf sie in den Korb. Setzte sich in Bewegung. Ihm entgegen. Dann stand sie vor ihm. Wusste, er war es. Und erkannte ihn kaum. Sein Gesicht war furchtbar verändert. Eingefallene Wangen. Tiefe Linien um seinen Mund. Und ein Ausdruck in den Augen

      »Tot«, sagte er leise. »Sie sind alle tot. Meine Vettern, mein Oheim, meine Freunde. Die Kinder meiner Frau, die Kinder meiner Schwester, alle Kinder. Tot. Alle tot.«

      Sie konnte nicht sprechen. Wortlos streckte sie die Hände nach ihm aus, wortlos umfasste sie sein Gesicht, wortlos zog sie seinen Kopf zu sich heran, barg ihn an ihrer Schulter. Er weinte. Sie streichelte sein Haar, hielt ihn umfangen, wiegte ihn wie ein Kind. »Die Wölfe«, flüsterte er heiser, »es waren die Wölfe.«

      Haibe zog Arme und Beine an und rollte sich zusammen wie ein ungeborenes Kind, barg sich zitternd in sich selbst. Sie war so schwach, dass ihr jeder Atemzug zu schwer erschien.

      Ich überstehe es nicht, dachte sie. O Göttin, es war alles umsonst. Meine Kraft reicht nicht für den vierten Tag. Sie reicht ja nicht einmal für die dritte Nacht. Ach, Zirrkan!

      Sie glitt hinweg in einen ohnmächtigen Schlaf.

      Ein Sandsturm blies ihr ins Gesicht. Heiße Sandkörner bissen in ihre Haut, brannten in ihren Augen, glühten in ihrem Mund. Sie lief, stemmte sich gegen den Sturm. Dort vorn war die Mutter. Sie musste zu ihr. Die Mutter schrie etwas. Sie konnte es nicht verstehen. Der Sturm heulte. Die Mutter gab ihr Zeichen mit Armen und Händen. Was wollte sie ihr sagen?

      Sie rannte der Mutter entgegen durch glimmenden Sand. Da plötzlich gab der Boden unter ihr nach. Ihre Füße staken fest, sanken ein. Entsetzt sah sie nach unten: Treibsand. Sie sank tiefer. Bis zu den Hüften. Bis zur Brust. Sie schlug und ruderte mit den Armen. Sie wurde weitergezogen. Glut hielt sie gefangen.

      Die Sandberge, dachte sie, die Sandberge fließen nach Westen. Sie reißen mich mit. Das Gesicht der Mutter über ihr, unendlich traurig. »Warum hast du mich nicht gehört?«, fragte die Mutter. »Warum hast du meine Zeichen nicht verstanden?«

       »Mutter, hilf mir!«, schrie sie. »Zieh mich raus!«

      Das Gesicht der Mutter sehr fern. »Aber ich hab‘ keine Hände!«

      Sie rannte über rotglühende Kohle. Die Hitze flammte an ihrem Körper empor. Dann sah sie die sonnenbeschienene Wiese. In deren Mitte einen großen Stein. Auf dem Stein eine Schlange. Plötzlich war da ein Stier. Die Schlange glitt von dem Stein, glitt auf den Stier zu, richtete sich auf, ihm entgegen. Der Stier senkte seine Hörner, stürmte auf die Schlange zu. Und er zertrat sie unter seinen Hufen. Nein! wollte sie schreien, das ist nicht möglich! Nie würde ein Stier die Schlange zertreten!

      Aber da lag sie, die Schlange – tödlich verletzt.

      Der Himmel wurde schwarz und Blitze zuckten herab, die Welt hallte wider von Donnergetöse und die Erde bebte von Pferdehufen. Und Wölfe drangen aus dem Wald hervor und Blut troff von ihren Lefzen.

      Mit rauem Schrei fuhr Haibe in die Höhe, starrte in die Finsternis. Ihr Puls jagte. Es dauerte lang, bis sie begriff, wo sie sich befand.

      Erschöpft ließ sie sich wieder zu Boden sinken.

      Die dritte Nacht im Grab – oder ist schon der vierte Tag? –, bald ist es soweit – du wirst Stimmen hören und Bilder sehen, in denen Erkenntnis liegt –

      Die Wölfe, warum die Wölfe – Männer gibt es, die sind in Wahrheit gar keine Menschen – es waren die Wölfe – Blut troff von ihren Lefzen – die Sandberge halten sie auf – die Sandberge fließen nach Westen – die Hitze – die Sterne künden Unheil – die Priesterin ist in großer Sorge – eine weite Reise ohne Abschied – der Bach war ausgetrocknet – vor acht Sommern – Zirrkans Dorf – die Wölfe – der Bach war ausgetrocknet – das Zeichen – du bist doch meine Mutter – warum hast du meine Zeichen nicht verstanden.

      Auf einmal war sie da, die Erkenntnis: die Söhne des Himmels. Männer, die Wölfe sind. Sie werden uns überfallen.

      Die Große Göttin hat sich nicht von uns abgekehrt. Sie will uns helfen. Die Trockenheit ist ihre Warnung. Sie ist unsere Mutter. Sie hat uns ein Zeichen gegeben.

      Aber wir haben es nicht verstanden.

      »Taku!«, schrie sie. »Taku! Komm und hol mich hier raus! Ich weiß, was wir wissen müssen! Ich muss es euch sagen! Ich muss euch warnen! Die Wölfe kommen! Fliehen! Wir müssen fliehen!«

      Kalt und stumm umschlossen sie die Steine. Taku hört mich nicht. Er holt mich erst am Abend. Ich muss bis zum Abend durchhalten. Ich muss nachdenken. Mein Kopf, alles ist so wirr, kein klarer Gedanke – Zirrkans Dorf – das darf uns nicht geschehen. »Mütter, Ahnen!«, keuchte sie. »Ich bin Blut von eurem Blut, durch unzählige Fäden mit euch verbunden! Helft mir! Sagt mir, was ich tun soll!«

      Den Allgemeinen Dorfrat muss ich einberufen, noch am Abend, sobald Taku mich hier befreit hat. Es ist meine Aufgabe. Ich bin die Mutter des Allgemeinen Dorfrates. Wir müssen fliehen, werde ich ihnen sagen, sofort, noch diese Nacht! Aber wohin?

      Wir müssen unsere Vorräte mitnehmen und unser Vieh. Aber die Ernte ist noch nicht eingebracht! Und wir können doch unsere Felder nicht zurücklassen, den Boden, in dem wir verwurzelt sind. Und unsere Gräber, unsere Mütter und Ahnen – Nicht einen Mann, nicht ein Kind. Und die Frauen und Mädchen –

      Ich muss es verhindern.

      Und wenn wir uns verstecken? Doch wo? Und wann? Und wie lange?

      Oder uns zur Wehr setzen? In aller Eile Befestigungen bauen? Aber wir können doch nicht kämpfen!

      Die Streitaxt. Krieger, die von frühester Kindheit das Töten gelernt haben. Keine Menschen –

      Ich weiß nicht, ich kann nicht, ich muss –

      Naki wälzte sich herum. Erst hatte sie nicht einschlafen können, und nun wachte sie dauernd auf! Noch immer war es dunkel. Aber irgendetwas hatte sich verändert. Etwas war da.

      Naki lauschte. Da war nichts. Nur die ruhigen Atemzüge der Schlafenden und der Wind im Rindendach. Noch immer kein Regen. Sie würde wieder den ganzen Tag Wasser tragen müssen. Und dann auch noch Brot backen! Sie sollte lieber schlafen.

      Doch alles Zureden half nicht. Eine unerklärliche Unruhe hatte von ihr Besitz ergriffen. Es hielt sie nicht mehr im Bett. Vorsichtig schob sie den kleinen Rablu beiseite, der sich dicht an sie gekuschelt hatte, richtete sich auf, kletterte über Uori und stieg vom Lager.

      Sie tastete sich zur Tür, öffnete sie leise, trat hinaus. Die Luft war frisch. Das erste schwache Grau kündete das Ende der Nacht an.

      Kaum im Freien, fühlte Naki sich ruhiger. Sie lehnte sich an einen der beiden Pfosten, die das vorgezogene Hausdach trugen, und sah nach Osten, beobachtete das Verblassen der Sterne. Zeichneten sich nicht Schleier am Himmel ab, die ersten Vorboten aufziehender Wolken? Gespannt wartete sie, ob Morgenrot von baldigem Regen künden würde.

      Und nichts, kein Vorgefühl warnte sie mehr.

      Eine Männerhand presste sich hart auf ihren Mund. Ein Männerarm umschlang