Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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      Wai trat ganz dicht an den Stein, erhob sich auf die Zehenspitzen, näherte ihren Mund einem der Schälchen, trank. »Trink auch Ihre Tränen! Sie erhalten dich gesund!«, befahl Wai.

      Einen Augenblick fühlte Moria, wie etwas sie zurückhalten wollte, eine harte Hand griff mitten in ihr Herz, das Gesicht ihres Vaters blitzte vor ihr auf, zornig drohend sah er sie an, doch dann spürte sie den kühlen Schutz des Steines, näherte ihre Lippen dem Schälchen, saugte die Feuchtigkeit auf. Schauer rieselten ihr den Rücken hinunter.

       »Jetzt müssen wir unsere Augenlider benetzen, damit wir sehend werden!«, sagte Wai.

      Moria wusste nicht, was das war: sehend werden. Aber sie tat es Wai nach. Als sie mit dem feuchten Finger ihre Augenlider berührte und die Tränen der Göttin fühlte, spürte sie, wie etwas mit ihr geschah. Sie wusste nicht, was. Aber es war da.

      »Und wenn wir uns an dem Stein reiben, dann werden wir fruchtbar«, erklärte Wai. Und fügte in plötzlicher Verlegenheit hinzu: »Na ja, dazu sind wir noch zu klein.« Stumm standen sie da.

      »Pass auf«, sagte Wai endlich, »ich habe etwas für dich!« Wai öffnete ihre Gürteltasche und holte zwei Kieselsteine hervor. Den einen legte sie Moria in die Hand. »Tauch ihn in die Tränen der Göttin! Dann geht Ihre Kraft aus dem großen Stein in den kleinen! So kannst du Sie immer bei dir haben!«

      Sie starrte auf den Kiesel in ihrer Hand. Hell und glatt war er, fast wie ein Vogelei geformt, nur da, an der Rundung, war eine kleine Vertiefung. Sie schloss die Finger um den Kiesel. Wai trat an den großen Stein, badete ihren Kiesel in einem der Schälchen. Da machte sie es Wai nach. In den Tränen der Göttin begann der Kiesel zu schimmern und rötlich zu leuchten. Die Kraft war in ihm.

      Eine Weile hielt sie ihn noch in der Hand, dann verbarg sie ihn wie Wai in ihrer Gürteltasche. Nun war Wais Göttin immer bei ihr.

      Sie sahen sich an. »Jetzt müssen wir mit unserer Spucke das Zeichen der Göttin auf den großen Stein malen, Blut wäre besser, aber Spucke geht auch«, flüsterte Wai, spuckte auf ihren Finger und malte ein offenes Dreieck auf den Fels. »Jetzt du!«

      Sie gehorchte, zeichnete das Dreieck. Dann zog sie die Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. In stiller Übereinkunft machten sie einen tiefen Kniefall vor dem Stein, fassten sich wieder an den Händen und liefen zurück.

      Auf dem ganzen Heimweg sprachen sie kein Wort, trennten sich am Wäldchen mit einer stummen Umarmung. Als sie endlich allein den Hof ihres Vaters erreichte, war es längst Nachmittag.

      »Moria, wo warst du?« Die Mutter rannte ihr entgegen, kniete vor ihr nieder, schloss sie in die Arme. »Was hast du gemacht, ich habe solche Angst um dich gehabt, ich bin so glücklich, dass du wieder da bist, du kannst doch nicht einfach weglaufen, den ganzen Tag wegbleiben, und ich weiß nicht, wo du bist, wir haben dich überall gesucht, tu das nie wieder, hörst du, nie wieder, ich bin fast gestorben vor Angst um dich!« Die Mutter weinte und lachte in einem, drückte sie, schüttelte sie, küsste sie.

      Da erst wurde ihr klar, wie lange sie weg gewesen war, was sie getan hatte.

      »Moria!« Das war die Stimme des Vaters.

      Die Mutter ließ sie los, erhob sich, trat einen Schritt zurück. Moria drehte sich um, er stand vor ihr. Er war so groß. »Wo warst du?«

      Sie ertrug seinen scharfen Blick nicht, schlug die Augen nieder, er fasste sie am Kinn, hob ihren Kopf: »Sieh mich an!« Etwas schnürte ihr den Hals zu.

       »Antworte!«

       Sie schwieg. Meine Zunge soll mir abfallen.

      Verzweifelt suchte sie nach einer Ausrede, Cythia, was soll ich tun, Großmutter, warum bist du nicht mehr da, kein klarer Gedanke in ihrem Kopf, nur das Dröhnen ihres Herzens, zu spät, er wusste, dass sie ihm nicht sagen wollte, was sie getan hatte, er wusste, dass es etwas Verbotenes gewesen war, etwas Schlimmes …

      Seine Augen verengten sich. Die strengen Linien um seinen Mund traten hart hervor. Sie sah es, gelähmt vor Angst.

      »Wie du willst.« Er packte sie am Handgelenk, drehte ihren Arm auf den Rücken, schob sie vor sich her über den Hof. An einer der Vorratsgruben hielt er an, rollte mit dem Fuß den schweren Stein weg, der den Deckel beschwerte, hob den Deckel mit der einen Hand ab, ohne sie mit der anderen loszulassen.

      Dann steckte er sie in die Grube. »Dort bleibst du, bis du mir gestehst, wo du dich herumgetrieben hast!«

      Er legte den Deckel auf. Unwillkürlich duckte sie sich, er drückte sie mit dem Schilfdeckel tiefer, schloss die Grube. Sie merkte, wie er den Stein daraufrollte. Da erst fing sie an zu schreien.

      Sie schrie, bis ihr die Stimme wegblieb. Dann begann sie still zu weinen.

      Dunkel war es in der Grube, nur schwach sickerte Tageslicht durch den Schilfdeckel und den winzigen Spalt, den er offen ließ. Die Luft wurde ihr knapp. Und es war so schrecklich eng: Sie konnte nicht stehen, ohne den Kopf einzuziehen. Sie konnte nicht sitzen, da ein großer Korb mit Moosbeeren die Hälfte des Platzes einnahm. Erst nach vielen Verrenkungen fand sie eine Stellung, in der sie in der Grube kauern konnte. Der Vater – er durfte es nicht erfahren – meine Zunge soll mir abfallen –

      Der Deckel wurde geöffnet. Sie blinzelte ins Abendlicht: der Vater. Er sagte nur ein einziges Wort: »Nun?« Sie schüttelte stumm den Kopf. Wieder schloss sich der Deckel.

      »Cythia«, wimmerte sie leise, »was soll ich nur tun? Ach, Großmutter, warum bist du nicht mehr da?«

      Ihre Beine prickelten, verkrampften sich, schmerzten unerträglich. Unruhig ruckte sie umher. Ihre Gürteltasche drückte. Der Kiesel …

      Sie holte ihn aus der Tasche, schloss die Finger um ihn. Glatt und kühl lag er in ihrer Hand. Die kleine Vertiefung an der Seite schien dafür geschaffen, die Kuppe ihres Zeigefingers zu bergen. Sie streichelte mit dem Daumen über den Stein. Eine wundersame Ruhe entströmte ihm, drang durch ihre Finger, ihren Arm, drang bis in ihr Herz. Die Kraft der Göttin. Sie schloss die Augen, atmete tief. Da öffneten sich die Wände der Grube, und sie war frei.

      Das Moor lag vor ihr. Sanft strich