Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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Schwiegervater haben, und das war ein Glück. Aber es auszusprechen!

      Die Mutter trat zu ihnen, holte Moria ins Haus. Die ganze Familie versammelte sich, der Vater gab die Neuigkeit allen bekannt und lobte dabei den Brautpreis, den er für Moria erhalten würde. Jeder beglückwünschte Moria, jeder drückte ihr die Hand.

      Der Vater brachte dem Himmelsvater ein Dankopfer und gelobte für den Tag der Hochzeit die Opferung eines Stieres.

      Die Mutter und Agala trugen allein das Abendmahl auf, ließen nicht zu, dass Moria wie sonst die Männer bediente, richteten dann auch das Essen der Frauen und Kinder im Nebenraum festlich aus und bewirteten Moria, als sei sie ein Ehrengast.

      Zum ersten Mal in ihrem Leben stand sie im Mittelpunkt, einen ganzen Abend lang. Sie genoss jeden Augenblick davon.

      Als sie sich zum Schlafen begaben, dankte sie dem Vater noch einmal. Er nickte wohlwollend. Und dann sagte er: »Übrigens, Nuerkops Hof, den Lykos übernehmen und in dem du leben wirst, liegt weit weg von hier. Aber in der Nachbarschaft von Hairox‘ Hof. Du wirst also Cythia wiedersehen!«

      Morias Atem stockte. Mit offenem Mund stand sie vor ihrem Vater, starrte ihn an, merkte nicht, wie ungehörig das war. Hinter sich hörte sie einen erstickten Aufschrei: die Mutter.

      Cythia. Ihre Schwester Cythia. Es war das erste Mal, dass der Vater den Namen der Schwester wieder in den Mund genommen hatte. Dass das Schweigen gebrochen wurde, welches seit damals jede Erinnerung an die Schwester bedeckte. Als habe die Aussicht auf Morias ehrenvolle Heirat das Schandmal von Cythia getilgt.

      Plötzlich wurde Moria schlecht. Hastig stürzte sie aus dem Haus. Schwer atmend hielt sie sich am Pfosten fest und sog tief die kalte Luft ein. Lang stand sie noch im Regen, ehe sie wieder hineinging. Schwach und zitternd legte sie sich schließlich auf ihr Lager, zog die Decke fest um sich, fror dennoch.

      Im Laufe der Jahre hatte sie viele Wege erprobt, vor dem Einschlafen der Erinnerung zu entfliehen: An etwas anderes denken, Gebete aufsagen, sich Bußen auferlegen – zum Beispiel sich am nächsten Tag zu erbieten, trotz der Kälte die Wäsche im Bach zu waschen oder die schlimme Aufgabe zu übernehmen, nach dem Brotbacken in den heißen Backofen zu kriechen und darin die Flachsbüschel zum Rösten aufzustellen – oder sich so fest in den Finger zu beißen, dass es schmerzte. Heute versagten sie alle.

      »Es ist schrecklich heiß! Und diese Haare!« Cythia blies sich eine Strähne aus der erhitzten Stirn, fuhr sich mit der Hand in den Nacken, hob ihr schweres, offenes Haar für einen Augenblick in die Höhe, ließ es mit einem Seufzer wieder fallen. Sie, die kleine Moria, sah die große Schwester bewundernd an: unerreichbar erwachsen und unerreichbar schön.

      »Lass mich deine Haare flechten, dann ist dir nicht mehr so heiß«, bat sie schüchtern.

      »Flechten?! Wie einem Bauernmädchen?! Du weißt schon, dass das verboten ist?«

      Sie spürte, wie ihr die Röte in den Kopf stieg.

      Die Schwester lachte. »Du böse Kleine! Na los, worauf wartest du noch!« Cythia setzte sich auf einen Schemel, zwinkerte ihr zu.

      »Wirklich?« Ihr Herz klopfte. Schnell holte sie einen beinernen Kamm vom Wandbord, begann die Haare zu kämmen und zu flechten.

      »Du machst das gut«, sagte die Schwester erstaunt. »Woher kannst du das?«

      »Als ich noch mit Wai gespielt habe, habe ich ihr manchmal die Haare geflochten und ihr Blumen in die Zöpfe gesteckt.«

      Cythia warf ihr einen raschen Blick zu. »Seit Vater dich in die Grube gesteckt hat, traust du dich nicht mehr zu Wai, oder?«

       »Deine Zöpfe sind fertig«, erwiderte sie.

      Cythia legte ihr den Arm um die Schulter. »Weißt du was, Schwesterchen, wir beide gehen jetzt in den Wald, Heidelbeeren pflücken, wir zwei allein! Zieh dein ältestes Kleid an!«

      Sie nickte nur. Aber die Freude glühte auf ihren Wangen. Cythia legte ihren Schmuck ab, zog sich ein altes, verwaschenes Kleid an, ließ es am Hals offen. Sie selbst machte der großen Schwester alles nach.

      Die Mutter kam herein. »Wie siehst du denn aus, Cythia!«, rief sie entsetzt. »Zöpfe! Mach sie sofort wieder auf, du weißt, das gehört sich nicht!«

      Cythia zuckte die Achseln: »So ist es nicht so heiß. Wir gehen in den Wald, Heidelbeeren pflücken. Da sieht uns ja keiner!«

      Die Mutter schüttelte den Kopf. »Wenn das dein Vater merkt!«

       »Wird er nicht! Komm, Kleine!«

      Rasch, ehe die Mutter sie aufhalten konnte, nahmen sie ihre Körbe, rannten über den sonnengetränkten Hof, aus dem Tor, den glühenden Weg zum Wald. Als sie endlich unter die Bäume eintauchten, seufzten sie erleichtert auf.

      »Puh!«, stöhnte Cythia. »Ruhen wir uns erst einmal aus!« Cythia legte sich in den tiefen Schatten einer Linde, zog den Rock höher, fächelte sich Luft zu. »Erzähl mir von Wai! Was habt ihr zusammen gespielt, außer Zöpfe flechten?«

      »Oh, ich, wir haben uns im Wäldchen Höhlen gebaut, weißt du, so aus Zweigen und Gras, und dann saßen wir da drinnen und haben uns Geschichten erzählt, na ja, und manchmal sind wir auf Bäume geklettert …«

      »Geklettert? Du kannst klettern? Richtig auf Bäume? Das glaube ich nicht!«

      »Ich zeig‘ es dir!« Sie sprang auf, schätzte die Linde mit den Blicken ab, suchte nach Ästen und Auswüchsen und schon schwang sie sich auf den untersten Ast, stieg höher und höher, schaute nicht mehr nach unten, richtete alle Aufmerksamkeit aufs Klettern.

      Da hörte sie unter sich einen Aufschrei.

      Erst dachte sie, Cythia habe Angst um sie, und grinste. Doch dann wiederholte sich der Schrei, und ein Ton war in ihm, ein Ton

      Sie bog die Zweige auseinander, spähte hinunter, konnte Cythia nicht sehen, aber dort, Rot schimmerte durch das Blattwerk, wirbelte herum, Äste brachen, da war Cythia, Cythia rannte, Rot holte Cythia ein, Rot stieß Cythia zu Boden, Rot warf sich über Cythia. Und Cythia schrie.

      Wie war sie selbst vom Baum gekommen? Aus dem Wald? Zum Hof? Der Vater legte eben seinem Hengst das Zaumzeug an. »Herr!« Sie keuchte. Das Blut hämmerte. Pferdehufe dröhnten in ihrem Kopf.

      Er drehte sich heftig zu ihr um, Unwillen im Gesicht – einem Mädchen war es nicht erlaubt, seinen Vater anzusprechen –, doch plötzlich kniete er bei ihr nieder, fasste sie an den Armen, »Ruhig, Kind, ruhig«, sagte er eindringlich, »was ist geschehen, sag mir, was geschehen ist!«

      Nur zwei Worte würgte sie hervor: »Cythia! Rot!«

       Und er wurde blass. »Wo?«

      Sie zeigte zum Wald. Sie zitterte. Mit wenigen Schritten war er im Haus, schon wieder heraußen, Bogen, Köcher und Streitaxt in der Hand, er hob sie aufs Pferd, schwang sich hinter sie, hielt sie fest, stieß die Fersen in die Flanken des Hengstes, preschte mit ihr los. »Zeig mir, wo Cythia