Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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gelangte zu ihnen, ohne den Boden zu berühren. Sie bückte sich zu den Beeren, sog ihren säuerlichen Duft ein, pflückte sie, aß.

      Endlich wollte sie zurück in den Wald. Sie sah sich um: Moor, schwankender Boden, braune Tümpel. Sie wagte keinen Schritt zu machen, fürchtete, in jedem Augenblick zu versinken. Da strich sie über den Stein in ihrer Hand.

       »Hilf mir!«, flüsterte sie.

      »Du hast mich gerufen?« Eine Gestalt kam über das Moor auf sie zu, in weit wallende schwarze Tücher gehüllt, ein dunkles, altes Gesicht. Die Großmutter? Nein, doch nicht. Fremd, aber auch irgendwie vertraut.

      Die Worte kamen von selbst über ihre Lippen: »Ich brauche deine Hilfe!«

      »Ich weiß!« Eine kühle Hand fasste nach der ihren. Sicher wurde sie über das Moor geleitet.

      »Moria!« Der Vater war über ihr, hob sie aus der Grube, stellte sie auf die Füße. Sie schwankte. Jeder Muskel, jedes Gelenk schmerzte. In ihrer Hand verborgen der Stein.

      Die Abenddämmerung war hereingebrochen. Sie konnte sein Gesicht kaum sehen. »Was hast du mir zu sagen?«

      Dieser Satz, immer der gleiche Satz. Sie umklammerte den Stein. »Ich wollte Moosbeeren pflücken«, sagte sie heiser. »Ich weiß, ich darf nicht zum Moor. Aber – ich war dort. Und dann wusste ich nicht mehr, wie ich zurückkommen sollte.«

      »Im Moor?«, wiederholte der Vater. »Moria, es ist so tief, dass ein Kind darin versinken kann! Dein Ungehorsam hätte dich das Leben kosten können!«

       »Ja, Herr.«

      »Und wie bist du herausgekommen?«

      »Eine alte Frau. Sie ist gekommen und hat mich an Land geführt.«

       »Wer war sie?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nicht gekannt.«

       »Nun, wer auch immer, sie hat dich gerettet, das ist dir hoffentlich klar!«

       »Ja, Herr.«

      »Und weil du mein Verbot übertreten hattest und Strafe fürchtetest, wolltest du es mir nicht sagen«, stellte er fest.

      Sie senkte den Kopf.

      »Du hättest dir die Grube ersparen können, wenn du es mir sofort gestanden hättest!«

      »Ja, Herr. Es tut mir leid.«

      »Ist das alles?« Nun war es soweit. Unausweichlich. Unabänderlich. Gegen das, was jetzt kam, konnte auch der Stein ihr nicht helfen.

       »Ich warte!«, sagte er scharf.

       »Ich war Euch ungehorsam, Vater«, presste sie hervor. »Ich habe Schläge verdient.«

      »Allerdings! Du wirst sie erhalten – morgen! Und bis zur Wintersonnenwende wirst du den Hof nicht mehr verlassen!«

      »Ja, Herr!« Ein letzter strenger Blick, dann ließ er sie stehen und ging den Gästen entgegen, die eben am Hoftor erschienen.

      Moria ließ die Hacke sinken. Nicht auszudenken, wenn der Vater damals die Wahrheit erfahren hätte. Was war dagegen ein flüchtiges Zeichen, das Agala in den Boden geritzt hatte! Sie selbst hatte es seinerzeit nicht mehr gewagt, dem Vater noch einmal so zuwiderzuhandeln. Sie war nicht noch einmal bei dem großen Stein im Wald gewesen und hatte sich mit Wai nicht mehr getroffen.

      Nur den Kiesel, den hatte sie noch länger in ihrer Gürteltasche getragen, bis zu dem Tag, von dem an alles anders geworden war, dem Tag, an dem Cythia

      Ich habe ihr die Zöpfe geflochten. Ich bin schuld.

      Moria packte die Hacke und hämmerte damit auf den Boden ein. Konnte sie es denn nie vergessen? Ihr ganzes Leben war eine heimliche Buße seither. Aber diese Schuld war nicht zu tilgen.

      Das Baby, das die Nebenfrau dem Vater geboren hatte, schrie. Moria warf einen kurzen Blick in den Korb, in dem es auf sein festes Wickelkissen geschnürt lag, und prüfte, ob die Wickelbänder durchnässt waren oder stanken. Das Gesichtchen des Kindes war dunkelrot angelaufen und verzerrt. Aber ihm fehlte nichts. Erst am Abend musste es wieder gestillt werden. Erst am Abend durfte man es wieder kosen und mit ihm spielen.

      Moria unterdrückte den Wunsch, das Kleine aus dem Korb zu nehmen und zu wiegen, damit es endlich aufhörte zu schreien. Die Mutter duldete nicht, dass ein Baby verzogen wurde. Um das Gebrüll nicht ganz so laut hören zu müssen, nahm Moria den Korb mit dem Baby und trug ihn nach nebenan in den Herrenraum, stellte ihn auf dem Bett der Eltern ab. Der Vater und Krugor feierten am Königshof, sodass die Frauen nun diesen Raum mitbenutzen konnten. Die Verbindungstür ließ sie vorsichtshalber offen.

      Seufzend kehrte Moria an den Webstuhl zurück und webte pflichtschuldig weiter, drückte jede gewebte Reihe fest. Endlich schlief das Baby wieder ein. Die Ruhe war eine Wohltat.

      Moria fuhr prüfend über den Rand des Webstücks. Er war gerade. Fast jedenfalls. Wenn man nicht allzu genau hinsah. Einen so feinen, weichen und doch dichten Wollstoff hatte sie noch nie gewebt. Gerne hätte sie ihn etwas lockerer gelassen, dann wäre es schneller gegangen. Aber da ließ die Mutter nicht mit sich reden. Schließlich war es der Stoff für Morias Brautkleid.

      Sie lächelte. Würde er Lykos heißen, ihr Mann? Wieder sah sie sein Gesicht vor sich wie in dem kurzen Augenblick, als sie sich angesehen hatten. Und wieder schlug ihr Herz schneller, nur beim Gedanken daran.

      Jede Einzelheit rief sie sich ins Gedächtnis: den Schmuck aus den ungeheuerlichen Eberzähnen – was für ein mächtiger Krieger musste er sein, wenn er einen solchen Keiler getötet hatte! –, die rasche Bewegung, mit der er den Mantel zugezogen hatte, damit sie nicht die blutigen Spuren seines letzten Kampfes sah – was für eine Feinfühligkeit! –, die achtungsvolle Art, wie er ihretwegen seinen Gefährten die rohen Reden verboten hatte – sie wusste es, obwohl sie nichts verstanden hatte, aber es waren meist rohe Reden, die Wolfskrieger untereinander führten, und selten machten sie sich die Mühe, dabei auf die sie bedienenden Mädchen zu achten …

      Sie nickte. Ja, das alles zusammengenommen konnte nur eines bedeuten: Er war ein Held und dennoch war er nicht gefühllos wie ihr Bruder Krugor. Er liebte sie. Was für ein Glück, wenn er wirklich um sie warb! Nein, nicht er: der König für ihn. So viel Ehre für ein Mädchen wie sie! Wenn er nur keinen roten Mantel trüge! Unwillkürlich schauderte sie.

      Sie runzelte die Stirn. Wie dumm sie war! Alle Wolfskrieger trugen rote Mäntel. Und wenn er sie heiratete, würde er bereits den schwarzen Mantel erworben haben.

      Sie drehte sich zur Schwägerin um: »Hast du gehört, wie der Kriegszug ausgegangen ist?«

      Agala hielt die Spindel an, wickelte den Faden auf. »Vermutlich ruhmvoll«, sagte sie. »Sonst hätte der König wohl nicht zum Fest geladen! Seit wann kümmern dich die Geschäfte der Männer?«

      Einen Augenblick war Moria in Versuchung, Agala von Lykos zu erzählen, aber ehe sie den Mut dazu fand, wurde nebenan die Tür zum Hof aufgerissen und die kleinen Geschwister stürmten in den Herrenraum, schüttelten sich den Regen aus Haaren und Kleidern und rannten zur Ehrenbank, die dem Vater, Krugor und den Ehrengästen vorbehalten war.

      Moria beobachtete die Kleinen. Wie sich das Leben veränderte, wenn der Vater und Krugor nicht zu Hause waren. Wie übermütig dann die Spiele der Kleinen wurden und Regeln in Vergessenheit gerieten, die sonst mit peinlicher Genauigkeit