Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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nichts!« und verwischte hastig ihre Zeichnung.

      Aber Moria hatte gesehen, was Agala gezeichnet hatte: ein offenes Dreieck. Plötzlich war Morias Mund trocken. Das Dreieck. Das Zeichen der Schwarzen Göttin des Alten Volkes.

      Der Vater hatte streng verboten, dass an seinem Hof die Schwarze Göttin angerufen wurde. Sie musste es ihm sagen. Er würde dafür sorgen, dass Krugor Agala schwer bestrafte, vielleicht sogar tötete, so wie der Vater vor Jahren eine seiner Nebenfrauen –

      Ein Alp legte sich auf ihre Brust. Sie konnte es nicht. Nicht Agala, die an ihrer Schulter geweint hatte. Sollte sie die Schwägerin warnen? O nein, damit wäre offensichtlich, dass sie gesehen hatte, was sie niemals hätte sehen und verschweigen dürfen!

      Wenn sie tat, als habe sie nichts bemerkt, dann war es so, als sei alles in Ordnung. Und außerdem – vielleicht hatte sie sich getäuscht!

      Agala nahm eine Hacke und begann scheinbar unschuldig zu arbeiten. Moria ließ sich neben ihr nieder und versuchte zu vergessen, was sie gesehen hatte. Es gelang ihr nicht. Aber sie wusste nun, sie würde die Schwägerin nicht verraten. Denn schließlich, war sie selbst nicht um vieles schuldiger, auch wenn es schon so lange zurücklag?

      Heftig hackte sie gegen das Wirbeln in ihrem Kopf an.

      Sie war ein kleines Mädchen im kurzen Kleid: Den Finger im Mund stand sie am Tisch, keiner achtete auf sie, alle Frauen waren mit der Vorbereitung des Gastmahls beschäftigt. Sie nutzte die allgemeine Hast, um rasch den Finger in den süßen Brei und dann wieder voll scheinbarer Unschuld in den Mund zu stecken, wieder und wieder. Niemand merkte es.

      Mit hochrotem Gesicht gab die Mutter den Nebenfrauen, den Mägden und Cythia, der großen Schwester, Anweisungen, lief hin und her, kostete den Met, prüfte die Tücher, sah nach dem Brot im Ofen, der Suppe im großen Topf, dem Fleisch am Grillspieß, rührte Beeren unter die Dickmilch.

      »Geh, Moria, steh mir hier nicht im Weg!« Ungeduldig schob die Mutter sie beiseite. Sie schlüpfte aus dem Haus. Auf eine Gelegenheit wie diese hatte sie gewartet.

      Sie spähte über den Hof. Kein Mensch zu sehen. Und das Tor einen Spaltbreit geöffnet. Unbemerkt zwängte sie sich durch das schwere Tor, blickte noch einmal ängstlich zurück, dann rannte sie den Weg hinunter, so schnell sie konnte.

      Als sie die Hecke erreicht hatte, verließ sie den Weg, lief im Sichtschutz der dichten Büsche, etwas langsamer nun: Hier hatte sie keine Entdeckung mehr zu fürchten. Raureif lag auf der morgendlichen Wiese, brannte unter ihren nackten Füßen. Dennoch war ihr heiß.

      Mit Cythia gemeinsam hatte sie schon manchmal etwas Verbotenes getan. Sie war sehr mutig, die große Schwester. Aber jetzt, ganz allein –

      Sie erreichte das Wäldchen, schlug sich hindurch, trat wieder ins Freie hinaus, stockte: Dort lag er, am Rand des kleinen Dorfes, der armselige Hof ihrer Freundin Wai. Sie durfte nicht mehr hingehen.

      Der Vater war zornig geworden, als er erfahren hatte, dass sie mit einem Mädchen aus dem Dorf gespielt hatte, die Mutter hatte er angeherrscht: Warum hast du das nicht unterbunden! Ich will nicht, dass meine Tochter mit Kindern vom Alten Volk verkehrt!

      Die Schwiegermutter hat gesagt, es kann nicht schaden, wenn eine zukünftige Hausfrau weiß, wie es bei den Bauern zugeht, hatte die Mutter sich verschüchtert zu rechtfertigen gesucht, doch da war der Vater noch zorniger geworden und hatte nicht nur auf die Mutter, sondern auch auf die Großmutter geschimpft, und dabei war die auf den Tod krank gewesen. Und dann hatte er Moria verboten, zu dem Dorf zu gehen oder mit der Freundin auch nur ein Wort zu reden oder einen Blick zu tauschen. Aber eine Freundin blieb doch eine Freundin. Und außerdem hatte Wai versprochen, ihr das Geheimnis der Göttin zu verraten. Wenn der Vater davon wüsste! Die Göttin zu besuchen, das war noch viel schlimmer, als zu Wai zu gehen.

      Sie lief langsamer, blieb stehen, zögerte. Eben wollte sie wieder umkehren, da öffnete sich die Hoftür, und ein Mädchen kam heraus. Sie lief auf es zu. »Wai!«, rief sie schon von weitem. Wai winkte, kam ihr entgegen. Ihre Zöpfe wehten im Wind. Dicht voreinander blieben sie stehen. Plötzlich war eine große Befangenheit zwischen ihnen.

      »Du warst lang nicht hier«, sagte Wai.

       »Ich durfte nicht.« Wai nickte, als habe sie diese Antwort erwartet.

      Sie schwiegen. »Ich darf auch jetzt nicht«, sagte Moria schließlich. »Aber es ist mir gleich!«

      Wai strahlte. »Du traust dich was!« Und dann, nach einer Pause: »Dann trau‘ ich mich auch. Ich zeige es dir, das Geheimnis.«

       »Gleich?«, fragte sie. Ihr Herz klopfte.

      »Ja, gleich. Aber erst musst du schwören!«

      Wai zeichnete ein großes offenes Dreieck auf den Boden. »Da trete hinein! Und jetzt schwöre bei der, die Eins ist in Drei und Drei in Eins! Schwöre, dass dir die Zunge abfallen soll und du nie wieder sprechen kannst, wenn du ein Wort von dem verrätst, was ich dir zeige!«

       Sie schluckte. Schaute sich rasch noch einmal um.

      Dann trat sie in das Dreieck und sprach den Schwur.

      »Komm!« Wai nahm ihre Hand. Gemeinsam liefen sie auf den großen Wald zu. Sie krochen durch die Büsche, tauchten zwischen den Bäumen ein, drangen tiefer und tiefer in den Wald. Wusste Wai überhaupt, wohin sie gehen mussten? Würden sie zurückfinden?

      Nach endlos erscheinender Zeit erreichten sie eine kleine Lichtung. Wai blieb stehen und wies auf den großen runden Stein inmitten der Lichtung.

      »Da ist sie«, sagte Wai sehr leise, feierlich und scheu. Moria stieß die Luft aus. Die Göttin hatte Wai ihr versprochen, und nun war da nichts als ein riesiger Stein. Wäre nicht Wai gewesen, wäre sie gleich wieder umgekehrt.

      Langsam machte sie ein paar Schritte auf den Stein zu. Wai war ihre Freundin, Wai hielt diesen gewöhnlichen Stein für die Göttin ihres Volkes, sie durfte Wai nicht vor den Kopf stoßen. Noch ein Schritt. Da plötzlich stockte sie. Der Stein sah sie aus unzähligen glänzenden Augen an! »Die Augen der Göttin«, flüsterte Wai dicht neben ihr.

      Sie nickte. Plötzlich drängte alles in ihr niederzuknien. Etwas so Heiligem durfte sie sich doch nicht nähern! Widerstrebend ließ sie sich von Wai zu dem Stein ziehen. Die Augen erloschen.

      Jetzt sah sie, dass in die glattgeschliffene Oberfläche des Findlings viele Schälchen eingelassen waren, in denen Feuchtigkeit schimmerte.

      »Die Tränen der Göttin. Sie weint um unser Leid«, wisperte Wai und strich ehrfurchtsvoll über den Stein. »Fass Sie auch an, komm!« Wai führte ihre Hand. Sonst hätte sie nie gewagt, den Stein zu berühren. Sie zitterte, als sie die glatte, kühle Oberfläche fühlte.

      »Du