Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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hatte, hörte auf zu bestehen.

      Schreiend fuhr Haibe auf. Sie horchte. Das Blut dröhnte in ihren Ohren. Dahinter, schwach, fern, wie zum Echo zerfetzt – verzweifelte Schreie? Sie strich sich über die Stirn: Wo war die Wirklichkeit, wo der Wahn? Sie presste die Fäuste an die Schläfen. O Göttin, hilf! Lass mich nicht schwach werden!

      Sie durchforschte die Finsternis, sah die dünne Linie und das sich erweiternde Dreieck des Lichts. Der vierte Tag war angebrochen.

      Diesen einen Tag lass mich noch durchstehen. Ihn überleben. Ich muss die anderen warnen. Völlig entkräftet sank sie zusammen.

      Sie tanzte mit den Frauen des Dorfes vor dem Grab den Tanz der Erneuerung. Die Kraft strömte aus der Erde in ihre Füße, durch ihren Körper hindurch, verband sich mit den anderen, verband sich mit den Müttern und Ahnen.

      Unter ihren Füßen tat die Erde sich auf, tiefer und tiefer tanzten sie hinab, tanzten in den Ursprung der Erde.

      Ein schriller Schrei. Der Kreis zerriss, wurde zur Schlange. In immer enger werdenden Windungen tanzten sie in die Mitte einer Schnecke. Dort im Zentrum brannte ein Feuer. Beißend hing der Rauch in der Luft.

      Die erste Frau erreichte das Feuer, verschwand darin, die zweite, die dritte. Verschwand und kehrte nicht wieder. Ich muss umkehren, dachte Haibe, dort im Feuer wartet der Tod. Sie versuchte sich gegen die Richtung des Tanzes zu wehren, vom Feuer weg zu tanzen, doch mit unheimlicher Kraft zog ihre linke Nachbarin sie weiter, zog sie näher ans Feuer. Haibe stemmte sich dagegen, vergebens, sie wollte ihre Hand zurückreißen, doch die vor ihr Tanzende umklammerte sie fest. Mit Fingern ohne Haut und Fleisch.

      Entsetzt sah Haibe der Frau ins Gesicht: Ein Totenschädel grinste sie an. Um den knöchernen Hals schimmerte die Bernsteinkette. Dann verschwand das Skelett im Qualm des Feuers. Doch unerbittlich hielt sie die Knochenhand.

      Sie zerrte und zog, bekam ihre Hand nicht frei. Der Qualm biss in ihren Hals.

      Haibe wimmerte. Sie roch den Rauch. Ein Traum, nur ein Traum. Aber das Feuer, in dem ich verbrennen werde – ich rieche den Rauch! Sie krümmte sich.

      Ich darf nicht dem Wahn verfallen! Lüre hat mir vorhergesagt, dass es so kommen werde. Du wirst deinen Sinnen nicht mehr trauen können und die Grenzen deines Körpers verlieren … Du wirst dich dem Tode nah wissen …

      Nah wissen. Aber nicht sterben. Ich darf nicht sterben. Ich muss ihnen die Botschaft bringen! Fliehen, wohin, sagt es mir –

      Sie glitt in einen tiefen Abgrund.

      Da, plötzlich, hörte sie ein Dröhnen, im Schlag ihres jagenden Herzens dröhnte es lauter, die Steine hallten wider von diesem Dröhnen, und dann setzten sie sich in Bewegung, kamen immer näher, sie spürte es im Finstern, die gewaltigen Deckensteine senkten sich auf sie herab, die Trägersteine rückten heran, gleich würden sie sie umschließen, zermalmen. Aus der Tiefe des Grabes schrien die Mütter.

      Haibe presste die Hände an die Ohren. Schon berührte sie der kalte Atem der Steine. Da plötzlich wichen die Steine zurück, weiteten sich, wurden durchsichtig, ließen den Blick frei, ließen Haibe in den Wald sehen.

      Die Abendsonne schien durch die Bäume. Wie Kupfer glühten die Stämme. Rötlich schimmerte der Sand auf dem Pfad, der über die kleine Lichtung führte.

      Dort am Bach die Trauerweide, unter deren dicht herabhängenden Zweigen sie auf Zirrkan gewartet hatte … Wie einst ließ sie sich unter dem Blätterzelt nieder, sah durch den grünen, wispernden Vorhang.

      Sie hörte Schritte im Wald. Viele Schritte. Dann traten Menschen zwischen den Bäumen heraus. In tiefem Schweigen gingen sie, schwarze Schemen gegen das rötliche Licht, Männer zunächst, Männer mit bärtigen Gesichtern, wehenden Haaren und schrecklichen Wolfsschädeln auf ihren Köpfen, Wolfsfell auf ihren Schultern, darüber Langbogen und Köcher, dann Frauen, gebückt unter hoch aufgepackten Rückentragen, eine hinter der anderen, die Hände auf den Rücken gefesselt, mit Stricken aneinandergebunden.

      Eine Frau schwankte, blieb stehen, der Zug geriet ins Stocken, schon war einer der Männer neben der Frau, schlug sie, ein anderer drohte ihr mit erhobener Axt, die Frau taumelte weiter. Die Frauen zogen auf dem Pfad an der Trauerweide vorbei, aneinandergefesselt, von den Männern getrieben wie Vieh, Haibes Augen noch immer geblendet, noch immer konnte sie niemanden erkennen, doch da, nicht weit von ihr entfernt, war das nicht Kugeni, Zirrkans Schwester? Plötzlich war sie hinter Kugeni, legte ihr die Hand auf die Schulter.

      Kugeni drehte sich um, sah sie aus verstörten Augen an.

      Es war nicht Kugeni. Es war Naki.

      »Naki!«, schrie Haibe. Dann brach sie in tiefer Bewusstlosigkeit zusammen.

      Feuer glühte in ihrem Leib. Sie tastete sich ab, fühlte Knochen und darüber Haut wie trockenes, heißes Gras. Qualvoll schrie jede Faser ihres Körpers nach Wasser. Alle Feuer ihres Lebens wüteten in ihr, vereinten sich zu einer alles verzehrenden Glut.

      Wasser – Wasser –

      Wenn Taku das Grab öffnete, würde er ihr etwas zu trinken bringen …

      Musste nicht längst Abend sein? Einmal noch nahm sie ihre Kräfte zusammen, bäumte sich auf in verzweifelter Willensanstrengung. Sie durchforschte die Finsternis, drehte sich nach allen Seiten, suchte mit brennenden Blicken nach dem schmalen Lichtstreifen und dem hellen, tröstenden Dreieck, fand es nicht. Ihr Verstand weigerte sich zu begreifen, was das bedeutete: Es war Nacht.

      »Taku«, flüsterte sie tonlos, ihre Stimme nur noch ein trockenes Kratzen, »am vierten Tag bei Sonnenuntergang, warum bist du nicht gekommen, du bringst mich um, warum, Taku, warum …«

      Zirrkans Schwester – der Zug der gefesselten Frauen – und Naki –

      Die Erkenntnis kam über sie und tötete sie.

      Sie schwebte. Schwerelos ruhte sie dicht unter den mächtigen Deckensteinen des Grabgewölbes.

      Kein Durst mehr und kein Hunger, kein Brennen und keine Qual. Alles, was blieb, war gelöste Leichtigkeit.

      Ihr Blick durchdrang den Stein. Hell sah sie das Morgenlicht im Freien. Im Dunkel des Grabes, zwischen Knochen und Scherben, sah sie sich selbst. Leblos lag sie dort unten, merkwürdig verkrümmt und eingefallen, spitz stachen die Knochen aus der fahlen, vertrockneten Haut.

      Was mache ich dort, warum liege ich am Boden, fragte sie sich mit lächelnder Verwunderung.

      Da hörte sie ein schreckliches Knirschen. Schmerzhaft durchdrang es sie, wurde lauter und lauter. Die Steine traten auseinander, öffneten einen schmalen, schwarzen Spalt.

      Sie wurde von einer ungeheuren Kraft erfasst, auf diesen Spalt zugesaugt, sie wollte sich wehren – Lasst mich, ich will nicht, ich muss bei meinem Körper bleiben! – umsonst, näherte sich unerbittlich diesem Spalt, wurde hineingezogen, hineingepresst, ein schmaler, finsterer Höhlengang, kaum passte sie hindurch, wusste plötzlich: Dies war der Weg, den sie gekommen war, nun ging sie ihn zurück, kein Sträuben half, zurück, zurück –

       Und Freiheit – Weite – Licht.

      Das