Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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kniete am Brunnen und zog den Wassereimer hoch. Schwer war er, der große Eimer aus Eichenholz, randvoll mit Wasser gefüllt und noch mit einem Stein beschwert, damit er unterging.

      Nakis Arme waren müde. Ein dumpfer Schmerz hatte sich in ihren Schultern und ihrem Rücken eingenistet. Seit Tagen zog sie Wasser aus dem Brunnen. Wenn es doch endlich regnete!

      Mit dem Seil in der Hand erhob sie sich, trat einen halben Schritt vom Brunnen weg und lehnte sich weit zurück. Das Lindenbastseil scheuerte an der hölzernen Brunnenumrandung. Sie beachtete es nicht. Gleichmäßig setzte sie die Hände um, rechte, linke, rechte, linke. Endlich wuchtete Naki den Bottich über den niedrigen Brunnenrand und füllte einen der bereitstehenden Ledereimer. Sie ließ das Schöpfgefäß in den Brunnen zurückgleiten und wartete auf das klatschende Geräusch des Aufschlagens.

      Sie zog erneut, stöhnte leise, als sie das Gewicht des vollen Eimers spürte, und bog sich rückwärts. Da plötzlich riss das Seil. Schlagartig von der Last befreit, verlor Naki das Gleichgewicht und fiel nach hinten. »Nein!«, schrie sie laut. Schlaff lag das Ende des Seils in ihrer Hand.

      Sie raffte sich auf, sprang hoch, starrte in den dunklen Brunnenschacht hinunter. Der Eimer war versunken. Das Seil trieb auf der Wasseroberfläche. Der kleine Rablu, ihr jüngster Bruder, war herbeigelaufen und gaffte in den Brunnen. »Warum machst du das?«

      »Na zum Spaß, was sonst!« Sie rieb sich das Gesäß.

      »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um, Wirrkon, der älteste ihrer Brüder, war von der Baustelle herübergekommen.

      »Mit mir schon. Aber nicht mit dem Eimer! Er ist im Brunnen versunken. Das Seil ist gerissen.«

      »Ich hab‘s gesehen!« Er lachte. »Wenn du ein neues Seil besorgst, hol‘ ich dir den Eimer wieder hoch.«

      »Danke!« Sie nickte und wandte sich zum Gehen.

      »Lass dir ruhig Zeit!«, rief er ihr nach. »Ich bin froh über eine Pause!«

      Das verstand sie nur zu gut. Wirrkon spaltete schon den ganzen Morgen gemeinsam mit Oheim Aktoll Baumstämme zu Brettern für die Verschalung des neuen Brunnens. Oheim Aktoll war der geschickteste Zimmermann im Dorf. Es musste schwer sein, im Gleichklang mit ihm Keile mit dem Beil ins Holz zu treiben.

      Über die Schulter lächelte sie Wirrkon zu und ging am Haus von Oheim Ritgos Frau Songo vorbei auf das Haus ihrer Mutter zu. Aufatmend trat sie in den Schatten des Vorplatzes unter dem hohen, mit Rinde gedeckten Dach. Neben dem Mahlstein stand ein Körbchen mit Walderdbeeren. Rasch schob sie sich eine Handvoll in den Mund. Sehr klein waren sie wegen der großen Trockenheit – aber darum umso süßer.

      Sie stieß die schwere Holztür auf, musste sich dagegen lehnen, damit sie sich ganz öffnete. Naki trat ein, wartete, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und sah sich suchend um. Ihr Blick glitt kurz über das breite, mit einer Wolldecke zugedeckte Lager in der Ecke, über die Bänke an der Längsseite des Raumes, den Webstuhl, den Wollkorb, das Geschirr auf den Wandborden, die mit Steinen umgrenzte Feuerstelle und verharrte dann bei den vielen kleinen Gerätschaften, die an Holzpflöcken ringsum an den lehmverputzten, in roter Farbe mit den Zeichen der Göttin bemalten Flechtwänden hingen: den Steinbeilen und Flintmessern, Holzlöffeln und Käsesieben und vor allem den Lederriemen, mit denen die Ochsen ins Joch gespannt wurden. Ein langes Seil war nicht darunter.

      Seufzend kletterte sie den Steigbaum zum Zwischenboden hinauf und sah sich um. Tongefäße und Körbe voll Getreide und anderen Vorräten, büschelweise Flachs, ein Haufen ungesponnener Wolle, ein zerbrochener hölzerner Pflughaken und vieles mehr. Könnte sie die Mutter fragen, wo hier ein Seil lagern mochte! Die Mutter –

      Heute war diese schon den dritten Tag im Grab. Ein kurzes Schaudern ließ Naki zusammenfahren. Sie stieg vom Boden herunter, durchsuchte erfolglos den zweiten Raum des Hauses und betrat schließlich den dritten und letzten, die Töpferwerkstatt von Tante Gwinne. »Du bist ja hier!«, sagte sie überrascht, als sie die Tante bemerkte. Vorhin noch hatte sie diese im Gemüsegarten angetroffen.

      »Bei diesem Wetter trocknet der Ton so schnell aus«, erwiderte die Tante. »Er hat schon die richtige lederartige Festigkeit. Ich muss eben die Muster in die Becher ritzen, sonst ist es zu spät. Sei so gut, gib mir die beiden Stichel dort!«

      »Wie du das machst«, meinte Naki bewundernd und beobachtete, wie die Tante ein Muster aus den heiligen Zeichen in den ebenmäßig geformten Becher grub. »Ich könnte das nicht.«

      Die Tante lächelte. »Die Göttin gibt jedem andere Gaben. Mir hat sie eben Hände gegeben, die den Ton zum Leben erwecken, damit jedes Gefäß, das meine Werkstatt verlässt, ein Sinnbild Ihres geweihten Leibes ist.« Sie hielt den Becher in die Höhe. »Siehst du die einladende Öffnung und das ausladende Rund – die weibliche Höhlung, Ursprung und Geheimnis des Lebens? Wann immer wir aus diesem Becher trinken, feiern wir damit Ihre Fruchtbarkeit. Und unsere eigene Weiblichkeit. Denn wir Frauen sind die Ebenbilder der Göttin.«

      Naki nickte. Ihre Augen wanderten über die fertigen Gefäße auf den Wandborden. Weite Schalen, zierlich-dickbauchige Fläschchen, elegante Tassen, hohe Becher und rundliche Näpfe aus dunkel glänzendem, glattpoliertem Ton, deren weiß und rot leuchtende Muster nur von einem erzählten: der Heiligkeit der vielgestaltigen Göttin.

      »Dir wird auch noch klarwerden, welche besonderen Gaben Sie dir gegeben hat«, meinte die Tante.

      Naki zögerte. Sollte sie Tante Gwinne davon erzählen? Da war diese Scheu, mit jemand anderem als Zirrkan darüber zu sprechen …

      Die alte Tante stöhnte. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, blauschwarze Schatten dunkelten um ihre tiefliegenden Augen. Die fahle Haut spannte über den vorstehenden Wangenknochen.

      Seit Tagen hatte Tante Kjolje vor Schmerzen nicht mehr schlafen können, trotz der bitteren Tees aus betäubenden Pflanzen, die die Mutter ihr einflößte. »Nicht mehr lange, Tante Kjolje«, sagte die Mutter, Tränen erstickten ihre Stimme, »nicht mehr lang musst du dich so quälen. Bald wird Zirrkan hier sein, ich habe nach ihm geschickt. Er wird deine Schmerzen lindern.«

      Sie selbst, das Kind, trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich geh‘ ihm entgegen«, sagte sie und lief aus dem Haus, die Dorfstraße hinab, in den Wald.

      Zirrkan, der Heiler. Erst dreimal hatte sie ihn im Dorf gesehen. Trotzdem musste sie immer wieder an ihn denken. An seine Flöte. Seine Lieder. Seine Geschichten. Seine Trauer. Und sein stilles Lächeln, das sich auf die Menschen übertrug, mit denen er sprach, und auf die Dinge, die er berührte.

      Alles war anders, wenn er da war. Vor allem die Mutter. In Zirrkans Gegenwart leuchtete die Mutter.

      Und wie er den Muga geheilt hatte, als diesen beim Grabbau ein unsichtbarer Zauberpfeil getroffen hatte, so dass der Muga sich kaum mehr bewegen konnte! Zirrkan würde der armen Tante helfen. Er musste. Vor Ungeduld rannte sie. Und dann sah sie ihn um die Wegbiegung kommen. Sie stürmte ihm entgegen.

      Er hielt nicht die Arme auf, wie die Oheime und der Muga es taten, fing sie nicht auf, hob sie nicht in die Luft. Er lächelte nur und nickte ihr zu: »Na, du!«

      Dennoch war da wieder diese Vertrautheit zwischen ihnen. Als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, dass sie nebeneinanderher gingen, miteinander schwiegen. Er, der berühmte Heiler, und sie, das Kind. Sie begleitete ihn ins Haus der Mutter, ans Lager der alten Tante.

      Zirrkan begrüßte die Mutter. Einen Augenblick schien es, als seien die beiden allein im Raum. Dann wandte