Gabriele Beyerlein

Die Göttin im Stein


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blendete nicht.

      Sie sah nichts als dieses Licht, und doch wusste sie mit unerschütterlicher Gewissheit: Sie war in dem Licht, Sie war es selbst, die Eine, die Drei war in Eins und Eins in Drei.

       Gestalten kamen aus dem Licht auf sie zu, sie hatten keinen menschlichen Körper, und doch erkannte sie sie sofort: ihre Mutter, Tante Kjolje, ihr Großer Oheim. Strahlend kamen sie ihr entgegen.

      Freude und Ruhe umströmten sie. Sie bewegten ihre Lippen nicht, und doch sprachen sie zu ihr: Komm mit uns, Haibe, fürchte dich nicht, wir führen dich, wir geleiten dich, dein Schmerz hat ein Ende, es ist gut, alles gut …

      Unwiderstehlich war der Wunsch, bei ihnen zu bleiben, tiefer in das Licht hineinzugehen. Sie folgte ihnen.

      Neue Gestalten tauchten auf, unsicherer als die anderen, Suchende beinahe noch wie sie selbst, und doch auch sie voll heiterem Frieden: ihre beiden Vettern, ihre Söhne Wirrkon, Karu und der kleine Rablu, ihre Brüder Li und Aktoll und dort Taku und die anderen Männer der Koa. Sie eilte ihnen entgegen, glücklich, sie alle zu sehen, heil bei sich zu wissen. Aber da war etwas, was sie zurückhielt.

      Sie formte den Gedanken, sie musste ihn nicht aussprechen, sie wusste, dass die anderen ihn hörten: Was ist mit Naki?

      Mitleid legte sich wie ein Schleier über die Gesichter: Naki ist noch nicht berufen.

      Da war das Bild wieder da: Naki im Zug der gefangenen Frauen, gefesselt, gebeugt unter der schweren Last …

      Ich muss zu Naki, schrie sie stimmlos in das Licht, ich bitte dich, Große Göttin, versteh, dass ich nicht bleiben kann, sosehr ich es mir wünschte, schick mich noch einmal zurück, bitte, ich muss Naki helfen …

      »Haibe! Komm zurück! Du darfst nicht tot sein, nach allen anderen nicht auch noch du! Ich brauche dich! Trink das, ich flehe dich an, trink!«

      Ihr Körper war eine flammende Qual.

      »Große Bärin, hilf meiner Schwester! Lass mich nicht zu spät gekommen sein!«

      Jemand hielt ihren Kopf, träufelte Wasser in ihren Mund, unter grässlicher Anstrengung kämpfte sie gegen den glühenden Schmerz, schluckte das Wasser, trank.

      »So ist es gut. Trink weiter, Haibe, trink! O Schwester, meine Schwester!«

      KAPITEL 4

      »Amros, sag Agala, ich möchte Tee mit Sahne!«

      »Ja, Herr!« Morias kleiner Bruder wandte sich gehorsam an die Schwägerin: »Mein Vater möchte Tee mit Sahne!«

      Agala kauerte mit gesenktem Kopf an dem niedrigen Tisch vor dem Vater und Krugor und legte ihnen das Fleisch vor. Nun erhob sie sich – sorgfältig achtete sie darauf, dass sie dem Vater nicht das Gesicht zukehrte – und ging zur Tür, nein, sie ging nicht, sie huschte. »Sag deinem Vater, ich bereite den Tee sofort!«, erwiderte sie leise.

      »Agala sagt, sie macht ihn sofort«, gab Amrox weiter.

      Eine belanglose Begebenheit, die sich von selbst verstand. Und doch war dies der Augenblick, in dem Moria die Erkenntnis mit spitzem Stich traf: Mir wird es ergehen wie Agala. Auch ich werde bald verheiratet. Dann bin ich nicht länger Rösos‘ Tochter in ihrem Vaterhaus. Sondern eine Fremde unter Fremden. Mit einem Schwiegervater, vor dem ich das Gesicht abwenden muss und der mich behandelt, als wäre ich nicht da, einer Schwiegermutter, die mich mit Arbeit überhäuft und mir das Leben schwermacht, und einem Ehemann, der mich …

      Moria stellte das Brot vor den Vater und den großen Bruder und folgte Agala in den rußgeschwärzten Nebenraum. Agala kauerte an der Feuerstelle, blies in die Glut. Zum ersten Mal bemerkte Moria die Anspannung in Agalas stillem Gesicht, die dunklen Schatten unter ihren Augen. Agala wandte sich zum großen Wassergefäß. Ein Laut des Erschreckens entfuhr ihr. »Es ist kein Wasser mehr da!«

      Die Magd, die gewöhnlich das Wasser holte, arbeitete mit der Mutter im Speicher. Und Agala musste auch noch für Sahne sorgen.

      In ungewohnter Hilfsbereitschaft sagte Moria: »Ich hol‘ dir schnell welches!« Sie rannte über den Hof, zum Tor hinaus, zum Bach hinüber. Der Vater würde ungeduldig werden und es Agala spüren lassen. Und Krugor würde es nicht in den Sinn kommen, Agala vor der Missbilligung durch den Vater zu schützen.

      Krugor kam es überhaupt nie in den Sinn, sich anders um seine junge Frau zu kümmern, als ihr knappe Befehle zu erteilen und sie nachts im Dunkeln rasch und ohne Zärtlichkeit zu nehmen.

      Moria wusste es, obwohl sie in der anderen Zimmerecke schlief: Oft genug hatte sie sich in den Wochen seit der Hochzeit des Bruders die Hände an die Ohren gepresst, um Krugors Keuchen nicht zu hören …

      Nein, das Keuchen war nicht das Schlimme. Das Schlimme war, dass man von Agala nichts hörte, nicht den geringsten Laut.

      Moria bückte sich zum Bach, füllte das Gefäß nur halb, um schneller zurücklaufen zu können. Krugor hatte Agala vor der Hochzeit nie gesehen noch sie ihn. Sie konnten sich ja gar nicht lieben.

      Dieser Wolfskrieger auf dem Fest …

      Lykos. Mit ihm wäre es anders. Mit ihm ließe sich sogar ein Schwiegervater ertragen und eine Schwiegermutter. Er hatte sie beobachtet, sie nicht mehr aus den Augen gelassen. Er wollte sie, nur sie, nicht einfach irgendein Mädchen aus guter Familie, wie es Krugors Absicht gewesen war. Wie sie sich angeschaut hatten …

      Die Hitze schoss ihr in die Wangen. Wenn sie nur wüsste, ob der König wirklich für ihn bei ihrem Vater um sie werben würde!

      Sie rannte. Als sie zurückkam, war auch die Mutter im Raum und bereitete Preiselbeermus für die Nachspeise. Agala hatte das Feuer nachgeschürt, Sahne aus der Vorratsgrube im Hof geholt und die Spanschachtel mit den Lindenblüten bereitgestellt. »Du warst schnell«, sagte sie dankbar, erhitzte ein klein wenig Wasser, brühte den Tee und füllte den Tontopf nach.

      Moria presste auf Geheiß der Mutter saure Milch durch ein Tuch. Endlich war der Tee fertig. Agala brachte ihn zu den Männern. Als sie zurückkam, forschte Moria im Gesicht der Schwägerin. »Mach dir nichts draus«, flüsterte sie Agala zu.

      Diese blickte sie verwundert an, lächelte dann zaghaft. »Ich hole neues Brennholz, Schwiegermutter«, sagte sie über die Schulter und wandte sich hinaus.

      »Und ich helfe dir«, rief Moria und folgte der Schwägerin, ehe die Mutter etwas einwenden konnte.

      Draußen dehnte sich Agala und strich sich die Haare aus der Stirn. »Du bist plötzlich so hilfsbereit«, sagte sie.

      »Ach«, meinte Moria und zuckte die Achseln. »Du tust mir leid.«

      »Leid?«

      »Na ja, es muss schwer sein, von daheim weg und in eine andere Familie, wir sind doch noch fremd für dich …«

      Ein Zittern lief durch Agalas Körper. Und plötzlich legte Agala Moria die Arme um den Hals, lehnte ihren Kopf an ihre Schulter und weinte. Moria stand hilflos da, rührte sich nicht. »Noch nie hat hier jemand etwas so Liebes zu mir gesagt!«, schluchzte Agala dicht an ihrem Ohr.

      Zaghaft legte Moria die Hand auf das Haar der Schwägerin. Agala löste sich wieder von ihr, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Holen wir Holz!« In stiller Übereinkunft erledigten sie die Arbeit.

      Als die Männer gegessen hatten, aßen Moria und Agala mit der Mutter und den anderen Frauen und den Kindern die Reste. Dann schickte die Mutter Agala und Moria in den Gemüsegarten: Die Beete mussten gehackt und gesäubert werden.

      Agala ging voraus. Moria holte noch die Geräte aus dem Schuppen. Als sie in den Garten kam, kniete Agala mitten in einem Beet und zeichnete mit den Fingern