Ines von Külmer

Tödliche Zeitarbeit


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seinen Vater fragend an.

      „Da musst du Frau Dr. Zeisig fragen!“

      Die ergriff sofort das Wort.

      „Also, Sebastian, die DNA oder DNS – Desoxyribonukleinsäure, das A steht übrigens für die englische Übersetzung „acid“ ist ein Biomolekül und Träger der Erbinformation, also der Gene mit den Informationen für den Bau der Proteine, die für die biologische Entwicklung eines Organismus und den Stoffwechsel in der Zelle notwendig sind.

      ‚Verstehe nur Bahnhof’ konnte Keller auf dem Gesicht seines Sohnes lesen. Frau Dr. Zeisig lächelte. Sie war in ihrem Element!

      „Also diese DNA bestimmt die Eigenschaften eines Menschen, wie er aussieht, zum Beispiel. Allerdings sind nur fünf Prozent der DNA so genannte codierende Bereiche. Das bedeutet, lediglich dieser kleine Bereich ist für die Eigenschaften eines Menschen zuständig. Der Rest der DNA besteht aus Abschnitten ohne prägende Eigenschaften. Kurz gesagt, diese Abschnitte sind unterschiedlich lang und variieren von Mensch zu Mensch. Alle Körperzellen eines Menschen weisen jedoch die gleiche Anzahl von Wiederholungen von Basenabfolgen auf. Diese DNA-Proben kann man beispielsweise in Hautpartikeln lokalisieren und mit der Datenbank des Bundeskriminalsamts vergleichen.“

      „Und wenn die DNA des Täters nicht in dieser Datenbank gespeichert ist, was dann?“

      Sebastian Keller sah die Medizinerin herausfordernd an.

      Kriminalhauptkommissar Keller räusperte sich. Er wollte die bisher gute Stimmung am spanischen Mittagstisch nicht in Gefahr bringen. Er wusste, dass sein Sohn auf Caroline Zeisig eifersüchtig war.

      Einmal hatte er die Rechtsmedizinerin nach Dienstschluss am Seziertisch in der Rechtsmedizin aufgesucht.

      Dr. med. Caroline Zeisig war gerade 43 Jahre alt geworden, von zierlicher Gestalt und unverheiratet. Sie hatte wohl mal vor Jahren eine traumatisierende Beziehung mit einem Alkoholiker durchlitten. Näheres wusste Keller jedoch nicht. Aber eine Gerüchteküche gab es natürlich auch im Polizeipräsidium Nürnberg. Diese bezog auch die Mitarbeiter der Rechtsmedizin in Erlangen ein. Es wurde so einiges gemunkelt. Und Alleinstehende waren ja irgendwie immer verdächtig. Denn warum hatten sie denn keine Familie oder wenigstens einen Partner? An Caroline Zeisigs Aussehen lag es ganz bestimmt nicht. Sie hatte hellblonde, leicht gelockte Haare, meist im Nacken zusammengerafft zu einem Pferdeschwanz. Sie hatte ein gut geschnittenes, schmales Gesicht, einen zarten, sehr hellen Teint. Immer war sie sorgfältig, jedoch dezent geschminkt. Und intelligent war sie auch. Vom Charakter eher zurückhaltend. Die Zusammenarbeit mit der Rechtsmedizinerin verlief immer reibungslos. Über ihr Privatleben verlor sie eigentlich nie ein Wort. Eine unsichtbare Mauer hatte sie um sich herum aufgebaut – Zutritt nicht gestattet. Eigentlich hatte sie Biologie studieren wollen. Das war im Präsidium bekannt. Auffallend war jedoch, dass sich Caroline Zeisig gerne mit Ludwig Keller unterhielt. Die Gespräche drehten sich aber immer nur um dienstliche Angelegenheiten. Im Polizeipräsidium machte man sich darüber schon Gedanken. Aber war sie auch privat an ihm interessiert? Vielleicht war Ludwig Keller auch viel zu sehr in der Vergangenheit seiner Ehe versponnen, um irgendwelche auf eine Partnerschaft abzielende Signale von außen überhaupt wahrnehmen zu können. Vielleicht hatte Sebastian ja Recht, und die Rechtsmedizinerin mochte ihn wirklich über eine kollegiale Freundschaft hinaus. Ludwig Keller wollte eigentlich nur seine Ruhe haben. Seine berufliche Beschäftigung füllte ihn aus. Seine Freizeit verbrachte er sehr gerne mit seinem Sohn. Und sein Beruf beanspruchte, zumindest gedanklich, auch einen wesentlichen Teil seines Privatlebens. Und dann gab es ja noch die Freunde. Meistens Ehepaare, die auch seine Frau Kathrin gut gekannt hatten. Kathrin hatte sich durch ihren neuen Lebensgefährten in Erlangen einen anderen Freundeskreis aufgebaut. An gesellschaftlichen Kontakten mangelte es dem Kriminalhauptkommissar jedenfalls nicht.

      Die eigentlich eher verschlossene Caroline Zeisig hatte dem Kriminalhauptkommissar vor ein paar Monaten einmal aus ihrem Privatleben erzählt. So gesprächig hatte Keller die Rechtsmedizinerin noch nie erlebt. Er hatte sie in der Rechtsmedizin in Erlangen besucht. Einen ziemlich brutalen Mord hatte er mit seiner Sonderkommission aufklären müssen. Die Polizei hatte im Dunkeln getappt. Es hatte keinerlei Hinweise auf einen möglichen Täter gegeben. Er war wirklich erstaunt gewesen, was da alles aus der zierlichen Frau heraussprudelte.

      „Bevor ich mit dem Studium der Medizin begann, habe ich mal ein Praktikum in einer Pharmafirma in Nürnberg gemacht. Mein Vorbild waren eigentlich immer Biologen, die etwas bewegen. Zum Beispiel Hyazinthpapageien im Urwald retten. Habe vor einiger Zeit mal was im Fernsehen gesehen, über so ein Projekt. Oder Filme machen über vom Aussterben bedrohte Tierarten, wie zum Beispiel Orang Utans, die ihren Lebensraum nach und nach verlieren, weil wir hier in Europa und Amerika in unseren Gärten Möbel aus Tropenhölzern zu Sonderpreisen haben müssen. Aber ich bin eigentlich eher der ängstliche Typ. Viel zu sehr auf Sicherheit fixiert. Und dann monatelang durch den Regenwald robben, um mal eine Aufnahme in den Kasten zu bekommen, die für die sensationsverwöhnten Zuschauer am heimischen Bildschirm sehenswert ist. Also, um auf den Punkt zu kommen, bei diesem Praktikum habe ich dann studierte Biologen und Biologinnen kennengelernt. Da musste man echt aufpassen, wenn man in den Bürofluren hinter ihnen ging, dass man nicht im Schleim versank, den sie absonderten, besonders wenn sie im Schlepptau eines Firmenmitarbeiters der „oberen Etagen“ waren. Nichts für mich! Es lief überhaupt nicht gut für mich, ich fühlte mich auch gemobbt.“

      Das Gesicht der Fachärztin für Rechtsmedizin hatte gestresst ausgesehen. Eine leichte Röte hatte sich auf ihren Wangen breit gemacht. Ihre Atmung hatte sich beschleunigt.

      ‚Was man einmal Unangenehmes erlebt hat, kann man zwar in einer hinteren Schublade des Gehirns ablegen, aber man wird es nie so richtig wieder los‘. So war es Keller durch den Kopf geschossen. Bei ihm war es die Scheidung gewesen. Immer wieder hatte er sich gefragt, was er wohl falsch gemacht hatte. Warum hatte Kathrin nie von der Unzufriedenheit gesprochen, die sich im Verlauf ihrer Ehe in ihr breit gemacht hatte? Hatte er Warnsignale übersehen?

      Die Fachärztin hatte Keller aus seinen trüben Gedanken gerissen.

      „Ich habe mich dann für das Studium der Medizin entschieden. Ich wollte im naturwissenschaftlichen Bereich bleiben.“

      Sie beugte sich über das ziemlich entstellte Gesicht eines ermordeten Mannes in den Vierzigern, der auf dem Seziertisch lag.

      „Auch wieder so ein Gefühl der Angst. Tote können einen für Behandlungsfehler nicht verklagen.“

      Sie hatte den Mageninhalt des Ermordeten untersucht. Keine Hinweise, dass der Ermordete etwas zu sich genommen hatte, was seinen Tod hätte verursachen können. Das verkrustete Blutgemisch am Mund wies keine fremden DNA-Spuren auf. Der Tote war durch Schläge mit einem stumpfen Gegenstand so lange malträtiert worden, bis er schließlich gestorben war.

      Kriminalhauptkommissar Keller blickte in ihre blauen Augen.

      „Nicht alle Todesfälle sind belastend.“

      Frau Dr. Zeisig hatte das auf die unausgesprochene Frage des Nürnberger Kripomannes erwidert.

      „Man muss den nötigen emotionalen Abstand zu den Menschen auf dem Seziertisch wahren, sonst kann man früher oder später diesen Beruf an den Nagel hängen. Nur bei Kindern, da ist das etwas anders. Ich habe ja selbst keine Kinder…“

      Ihre Stimme wurde brüchig.

      „Tote Kinder gehen mir ans Herz. Das geht auch meinen männlichen Kollegen so. Ich habe einen Kollegen, der mir gesagt hat, er müsse beim Anblick von extrem übel zugerichteten Kinderleichen immer an seine Enkel denken und daran, dass es auch sie sein könnten. Rein theoretisch natürlich. Aber sehr oft sind solche Täter ja im Umfeld der Opfer zu finden.“

      „Hoffentlich kann Pelzig bei den Mitarbeitern der Personalleasingfirma mehr herausfinden.“

      Kriminalhauptkommissar Keller war auch gedanklich wieder in dem spanischen Tapas-Lokal.

      Mittlerweile war es fast fünf Uhr, als das Smartphone des Hauptkommissars wieder einmal klingelte.

      „Ist Sebastian vielleicht bei dir? Ich mache mir Sorgen, dass er noch nicht zu Hause ist.