Cory d'Or

Korridorium – letzte Erkenntnisse


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       6.12.11

      Ich betrete den Korridor. Hier herrscht ein lustiges Treiben. Eine Frau in bunten, weiten Gewändern begrüßt mich lächelnd und mit einem Kuss auf die Stirn. Sie führt mich zu ihren Freunden, die mit ein paar Kindern um ein Feuer herumsitzen, singen, tanzen und Marshmallows braten. Ich gefalle offenbar noch weiteren Frauen aus der Gruppe. Sie betasten mich, schmiegen sich an mich und binden mir Blumen ins Haar. Als ich weitergehen will, zieht mich eine von ihnen zu Boden und bietet mir ein glimmendes Röllchen Papier an. Die Türen des Korridors – sehe ich nun – haben sie mit Fantasiewelten bemalt, mit Mandalas und Blumengirlanden.

      Ich habe meinem Volk versprochen, nicht eher in meiner Suche innezuhalten, als ich das Tjurunga wiedererlangt habe, ohne das unser Schamane machtlos ist. Dennoch: Kann ich nicht kurz verweilen, mich von den Strapazen der Wanderung erholen? Vielleicht sollte ich die Sprache dieses Volks erlernen und bei ihnen in Erfahrung bringen, was mich am Ende des Korridors erwartet – und hinter den vielen Türen, die sie seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten nicht mehr und womöglich nie geöffnet haben. Die fröhliche Stimmung dieser Menschen steckt mich an. Ja, ich bleibe: Ich nicke den Frauen zu und gebe ihnen zu verstehen, dass ich die freundliche Einladung annehme. Möglicherweise finde ich das Tjurunga ja hier bei ihnen. Mir wird ein wenig schwindlig von all den neuen Eindrücken. Der schwelende Papierstengel ist heruntergebrannt, und irgendwie weiß ich, dass der Rauch nie mehr bitter schmecken wird.

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       12.12.11

      Ich betrete den Korridor zwischen den Zellen. Eine große Ehre! – was habe ich gebeten, gebettelt und gebetet, einmal die Chance zu bekommen, mit den alten Meisterpoeten zu sprechen, ihren Rat einzuholen, von ihrer Weisheit zu profitieren? Nun endlich, nach langen Verhandlungen, wird mir der Zutritt zum Akasha-Palast gewährt. Hier werden nicht nur ihre zeitlosen Werke sicher verwahrt, hier lebt ebenfalls ihre damalige Persönlichkeit in immerwährender Sicherheitsverwahrung fort. Nichts vergeht, auch nicht der Geist unserer Ahnen, die uns Rede und Antwort stehen, falls wir denn den Weg zu ihnen finden.

      Man hat mich in den Korridor der Dichter gelassen – einen eigenen für Kurzprosatexter gibt es nicht – und wer sich von ihnen nicht nur auf Lyrik beschränkt hat, dessen Zelle öffnet sich schätzungsweise noch zu anderen Korridoren hin: Tragödien, epische Dichtung, Komödien, Chorlyrik, astrologische Deutungen …

      Aber das ist nur eine Vermutung, keine Gewissheit. Die Wächter hier sind nicht sehr auskunftsfreudig. Jedenfalls scheint das Aufnahmekriterium für die Insassen der Kuss einer Muse zu sein. Hier also wohl der von Euterpe. Ich lese auf den Schildchen an den Türen Namen wie Milton, Dante, Bolo, Orpheus, Neidhart, Brant, Shiki, Bukowski, Vergil, Yeats, Tyrtaios, Tao Yuanming und viele, die ich noch nie gehört habe. Euterpe war fleißig. Oder war es Erato?

      Wen soll ich hier befragen? Man lässt mir nicht viel Zeit. Ich darf einem der Dichter hinter den schweren Bohlentüren eine Frage stellen. Jahre, Jahrzehnte habe ich über diese eine Frage nachdenken können. Ich kenne sie in- und auswendig. Es ist die Frage, der Schlüssel zur Antwort hinter allen Antworten.

      Der Wächter wirkt bereits ungeduldig. Aus der Zelle Bukowskis scheint ein Heulen zu dringen, aber vielleicht ist es auch der Wind der Zeit, der sich in diesen endlosen verschlungenen Korridoren gefangen hat. Mein Blick fällt auf den Namenszug Rumi. Ja! Er soll es sein! Er wird die Antwort wissen und sie mir gerne sagen. Innerlich jubiliere ich, als ich die kleine Holzplatte in der Tür zur Seite schiebe. Ja, wer könne mir besser Auskunft geben als der persische Meisterpoet und Visionär der mystischen Liebes- und Gottesekstase!

      »Dschalaluddin?«, rufe ich ins Dunkel seiner Zelle. Undeutlich sehe ich dort einen Mann mit einer turbanumkränzten Derwischmütze, der sich mit ausgebreiteten Armen auf der Stelle dreht. Er strahlt, jenseits aller denkbaren Worte, eine unendliche Ruhe dabei aus, und gleichzeitig dringt mir eine unsägliche Freude, die in schimmernden Spiralen von ihm ausgeht, tief ins Herz.

      Ich weiß nicht, ob ich einen Atemzug lang dort stand oder eine Ewigkeit verging. Die Hand des Wächters schiebt die kleine Holzpforte zu Rumis Zelle zu. Er geleitet mich zurück. Als ich endlich wieder im Freien stehe und der Wächter die Tore des Palasts hinter sich geschlossen hat, beginne ich mich zu drehen, langsam um meine Achse, mit ausgebreiteten Armen.

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       14.12.11

      Ich betrete den Korridor aus verschiebbaren Plastikwänden. Die Forscher starten ihre Stoppuhr. Sie wollen testen, ob ich etwas weiß, was ich eigentlich nicht wissen kann: ob sich aus den Lernerfahrungen einzelner Individuen sogenannte morphische Felder bilden, auf die andere Individuen derselben Spezies Zugriff haben.

      Ich für meinen Teil kenne den Weg durch diesen Irrgarten nicht. Aber vor mir sind unzählige andere Ratten solange hindurchgeirrt, bis sie sich die kürzeste Route zum Futter merken konnten. Einige von ihnen sind inzwischen tot und seziert – sie begleiten mich unsichtbar mit ihren Kenntnissen, helfen ihrem unwissenden Genossen, geben mir Impulse ein, hier rechts, dort links zu laufen oder Abzweigungen zu ignorieren.

      Am Ziel des Parcours lasse ich mir das Dosenfleisch schmecken, die Belohnung für mich, während die Forscher ihr Ergebnis in eine Tabelle eintragen.

      Alle Lebewesen haben Ahnen, die ihnen helfen. Auch die Forscher. Nur dass diese sich, ähnlich wie sie ihre unbehaarten Körper mit Fellen und Stoffen vor Auskühlung bewahren müssen, auch alle Ahnungen von sich fernhalten. Wahrscheinlich hat sich ihr Gehirn zu dem Zweck so sehr aufgebläht, dass keiner dieser schwachen Impulse mehr ins empfindsame Innere dringen kann.

      So gehen sie oft und immer wieder in die Irre, bevor sie, wenn sie viel Glück haben, ans Ziel ihrer Wünsche gelangen.

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       15.12.11

      Ich betrete den Korridor. Wieder einmal. Es ist fast, als würde ich es jeden Tag aufs Neue tun und immer wieder denselben Korridor betreten: den zur philosophischen Fakultät. Doch ist das überhaupt möglich? Nein. Es scheint nur so. Das Ich ist nicht mehr das von gestern, und noch weniger das von letztem Jahr. Und auch der Korridor wirkt zwar wie der, den ich kenne und der mir wohlvertraut ist – mitsamt der Schleifspuren, die die metallenen Aktenschränke beim Umzug des Sekretariats auf den Fliesen hinterlassen haben, und einschließlich des schalen Geruchs aus der Zeit, als hier noch das Rauchen erlaubt war –, aber auch er kann gar nicht der von gestern sein.

      Die Täuschung ist perfekt. Ich könnte schwören, dass ich genau diese Schritte hier schon einmal gemacht habe, mir genau diese Gedanken hier schon durch den Kopf gegangen sind. Selbst mit vorgehaltener Pistole könnte man mich nicht dazu zwingen, dies alles neu und unverbraucht wahrzunehmen. Obwohl: unter Lebensgefahr oder in dem Wissen, diesen Korridor zum letzten Mal zu betreten und in wenigen Augenblicken mein Leben zu verlieren, vielleicht ja doch?

      Denn wie heißt es schon von alters her: »Man kann nicht zweimal denselben Korridor betreten. Auch die Seelen steigen gleichsam aus den Korridoren empor.«

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       21.12.11

      Ich betrete den Korridor, der zu einem der Tempel in der Pirámide del Adivino in Uxmal führt. Die Maya waren großartige Baumeister, aber letztlich wurde ihnen ihr Erfolg zum Verhängnis: Eine mehrjährige Dürre zwang ihre stark angewachsene Bevölkerung trotz ausgeklügelter Bewässerungssysteme in die Knie. Sie hinterließen prächtige Bauten und einen komplexen Kalender, der – so meinen manche – das Ende unserer Welt für den 21. Dezember 2012 vorhersagt.

      Eigentlich bekomme ich Panikattacken in engen Fluren und Durchgängen, doch seit ich die Halbinsel Yucatán betreten habe, überfallen mich Erinnerungen an seltsame,