Cory d'Or

Korridorium – letzte Erkenntnisse


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erzeugen kein Unbehagen bei mir, sondern ziehen mich im Gegenteil wie magisch an.

      Habe ich meine lästige Klaustrophobie verloren, die ich in einer Art Selbstbehandlung mit einem Blog zu bekämpfen versuche? Nein, ein Rest Panik ist noch da. Aber es zeichnet sich eine deutliche Besserung ab, und die Bestrebungen, meine Ängste zu meistern, scheinen schon erste Erfolge zu zeitigen. Ich gebe mir noch genau ein Jahr! Dann wird, beschließe ich spontan noch vor Ort im Tempelkorridor von Uxmal, die Welt enden – zumindest die meines kleinen Therapie-Blogs, das ich an genau diesem Tag rigoros löschen werde als Zeichen dafür, dass ich es jetzt mit den Korridoren in naturam aufnehmen kann, den leibhaftigen aus Stein, Metall, Holz und Glas. Während dann ein ganzes Universum echter Korridore auf mich wartet, wird eine Welt ausgedachter Korridore auf einen Schlag der Vernichtung anheimfallen. Als ob die Maya es vorhergeahnt hätten …

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       11.1.12

      Ich betrete den Korridor. Stationen des Kreuzwegs hängen als Holzschnitzereien zwischen den groben Holztüren. Stumm (natürlich stumm) zeigt der Schweigemönch, der mich führt, auf die Tür, hinter der sich die Zelle befindet, meine neue Heimat für den Rest meiner Tage. Erst jetzt in diesem Moment wird mir im vollen Ausmaß bewusst, dass ich von nun an nie wieder ein Wort sprechen werde, geschweige denn schreiben.

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       12.1.12

      Ich betrete den Korridor. Großformatige Schwarzweißfotos von Nashörnern hängen an den Wänden zwischen den Türen – Schnappschüsse meiner letzten Afrikareise. Einen Augenblick lang bleibe ich unschlüssig stehen. Was wollte ich hier noch? Nun, eigentlich ist es gleichgültig, welche der Türen im Korridor ich wähle oder ob ich überhaupt weitergehe – zumindest für einen Anhänger der Viele-Welten-Theorie wie mich, der davon ausgeht, dass sich durch jede Entscheidung, die getroffen wird, so viele parallele Wirklichkeiten bilden, wie alternative Entscheidungen möglich sind.

      Jetzt weiß ich’s wieder: Ich will in den Rauchsalon – rechte Tür. Aber das gilt nur hier. Ein Alter Ego von mir in einer anderen, ansonsten völlig identischen Welt öffnet jetzt die linke Tür und betritt das Billardzimmer. Eine weitere Version von mir läuft einfach weiter bis zur Tür in den Garten, was ebenso eine neue Welt erschafft, die dieser hier ansonsten bis aufs i-Tüpfelchen gleicht, wie sich auch eine parallele Wirklichkeit von der meinigen abspaltet durch den von uns, der einfach kehrt macht und wieder zurück in die Küche geht, um sich da noch einen zweiten (oder dritten oder vierten …) Magenbitter zu genehmigen.

      Sie verstehen, worauf ich hinauswill?

      Was immer ich mache – letztlich mache ich in Form unzähliger Inkarnationen, die ebenso zahllose Parallelwelten bevölkern, alles. Allein eine banale Handlung wie das Betreten eines Korridors kreiert bereits eine Vielzahl von Welten. Und das ist keine philosophische Spinnerei, sondern schlicht die Konsequenz, die Physiker aus ausgeklügelten Experimenten ziehen.

      Irgendwo im Multiversum hängen in diesem Korridor Farbfotos von Nashörnern. Oder Fotos von Giraffen. Oder von Einhörnern. Oder es sind alte Stummfilmplakate.

      Irgendwo bin ich ein Einbrecher in diesem Korridor. Oder ein Besucher. Der Gerichtsvollzieher. Oder die Putzfrau.

      Irgendwo toben meine Kinder durch die Gänge. Gab es einen Bürgerkrieg, und das Haus ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Liegt alles wie ausgestorben da, weil eine Seuche das Land entvölkert hat. Feiern ich, meine Familie und Freunde ein beschwingtes Fest, weil ab heute auf diesem Planeten endlich kein Mensch mehr hungern muss.

      Schon ziemlich irre, welche Horizonte sich da eröffnen. Leider weiß ich das nur in der Theorie – meinem Gefühl nach leibt und lebt nur eine einzige Ausgabe meiner selbst, nämlich diese hier, und selbst da bin ich mir manchmal nicht ganz sicher. Momentan bin ich nämlich etwas unleidlich wegen meiner Magenverstimmung, und da hilft es mir wenig, zu wissen, dass anderswo – unerreichbar, wenn auch genauso real wie Sie und ich – ein Parallelwelten-Alias von mir verliebt ist, Schmetterlinge im Bauch hat und die ganze Welt umarmen könnte. Um nur eine von vermutlich Myriaden weiterer Realitäten zu nennen …

      Und wenn Sie jetzt glauben, dass es angesichts dieser jede Vorstellung sprengenden Aussichten doch völlig gleichgültig wäre, wie man sich entscheidet oder auch nur, wie man sich fühlt: mitnichten! Das hier ist allein meins, mein ganz eigenes Ding, und kein wie auch immer gestaltetes Ebenbild von mir macht, wo auch immer, exakt diese Erfahrung. Gut, mit einer Magenverstimmung habe ich gerade eine schlechte Karte gezogen. Aber das geht vorbei. Wie steht es mit Ihnen?

      Klar ist, was immer ich schreibe (und was immer Sie gerade lesen oder vorgelesen bekommen): Letztlich schreibe ich in Gestalt einer parallelen Ausgabe meiner selbst auch irgendwo das Gegenteil. Oder eine Version, die mit 140 Zeichen auskommt. Oder vielleicht sogar eine packende, emotionalere, die die Herzen meiner Leserinnen höher schlagen lässt und einen namhaften Hollywoodproduzenten auf den Gedanken bringt, das müsse ein abendfüllender Film werden.

      Sie können also ganz beruhigt sein: Irgendwo im Multiversum der Quantenphysiker gibt es eine Parallelwelt, in der dieser Text oder eine alternative Les- und Spielart davon tief in Ihrem Inneren etwas anrührt, das Sie dazu inspiriert, diese, diese Welt auf Ihre ganz persönliche Weise gestalten und vielleicht sogar zu einer besseren zu machen.

      (Sie können mir glauben oder nicht. Das macht für mich und für Sie keinen Unterschied, denn natürlich trifft letztlich beides zu.)

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       25.1.12

      Ich betrete den Korridor. Es wird mein letzter Gang sein. Nur kurz werfe ich einen Blick zurück in meine Zelle, zu den Essensresten auf dem Tablett. Der Henker und ein Geistlicher, der nichts Persönliches zu sagen weiß, sondern nur Bibelverse vor sich hin murmelt, begleiten mich. Und meine Engel. Die hellschimmernden Gestalten, die niemand außer mir sehen kann, die mich besuchen kamen nach langen Monaten in der Zelle, mir plötzlich erschienen und mich seitdem nicht mehr verlassen haben. Ich höre das Rauschen ihrer langen, filigranen Flügel und ihr Flüstern. Ihr heiseres, säuselndes Flüstern, von dem ich nie ein Wort verstehen konnte. Obwohl, doch, just in diesem Moment: Hat nicht einer von ihnen direkt in mein Ohr geflüstert? Leise, gehaucht fast, aber doch verständlich? Oder bildet sich mein durch die lange Haft unzuverlässig gewordener Verstand nur ein, etwas gehört zu haben, ein Wort, ein letztes persönliches, das nur mir gilt, eine Botschaft allein für mich: Jetzt!

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       27.1.12

      Ich betrete den Korridor. Nett, dass Sie mich begleiten. Allerdings frage ich mich, was Sie hier wollen. Was erhoffen Sie sich von diesem Korridor? Dass er Sie wo hinbringt? Dass er Ihnen Türen und Möglichkeiten eröffnet? Neue Ausblicke, Einblicke womöglich? Oder erwarten Sie gar etwas von mir? Dass ich Sie in ungesehene Welten führe und Ihnen Dinge offenbare, geheime, numinose, unsagbare Dinge – mit der wohligen Vorfreude auf Nervenkitzel und einem ehrfürchtigen Schaudern angesichts des Unglaublichen?

      Gut. In dem Fall möchte ich Sie nicht länger aufhalten. Ich mache gerne kehrt und gehe meiner eigenen Wege. Nur zu, keine Scheu: Betreten Sie den Korridor.

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       30.1.12

      Ich betrete den Korridor. Er ist breit und kurz, und an seinem Ende befinden sich zwei Türen. Die linke trägt die Aufschrift »Der leichte Weg«, die rechte die Aufschrift »Der schwere Weg«. ›Ha!‹, denke ich. ›Mich könnt ihr nicht schrecken!‹ Ich greife an mein Schwert. Mit meiner Ausrüstung, dem Training, mit dem unbeugsamen Willen: Was soll mich da schon aufhalten können? Ich lege die Hand auf die Klinke der rechten Tür. Bin ich nicht stärker als die,