Cory d'Or

Korridorium – letzte Erkenntnisse


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Frage, die alles in Frage stellt: Wem eigentlich muss ich etwas beweisen?

      Es ist die Entscheidung eines Augenblicks, und doch gibt es kein Zögern: Ich nehme die linke Tür. Bevor ich erkennen kann, was mich dahinter erwartet, erwache ich in meinem Schlafsack – und bin einige Augenblicke lang ein wenig orientierungslos, denn hier, mitten in der Wildnis auf dem Appalachen-Trail, gibt es weit und breit keine Korridore und Türen. Es war ein Traum! Ein guter Traum. Irgendwie habe ich das Gefühl, eine wichtige, lebenswichtige Entscheidung getroffen zu haben. Ich bin stolz auf mich, öffne das Zelt, genieße die schneidend kalte Morgenluft in meinen Lungen und mache mich ans Frühstück.

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       4.2.12

      Ich betrete den Korridor, oder besser gesagt: Ich schwebe hinein, noch etwas ungelenk mit den Flügeln schlagend. Der Korridor ist rund wie ein Bohrloch. Türen kann ich nicht erkennen. Am Ende erwartet mich ein überirdisches Strahlen, das mich mit tiefer, süßer Sehnsucht erfüllt. Ich flattere und versuche, schneller voranzukommen. Wabernde Umrisse in dem Leuchten vor mir lassen mich an Freunde und Geliebte denken, die ich schon lange vergessen habe. Ich eile voran. Obwohl: Sollte ich nicht noch einmal zurückblicken? Habe ich vielleicht etwas unerledigt zurückgelassen?

      Oh, und ob!

      Idreana!

      Noch habe ich sie – in all den Korridoren, hinter den zahllosen Türen – nicht wiedergefunden! Ich wende mich um, auch wenn es schwerfällt, zurück zum Anfang des Tunnels. Das verführerisch schimmernde Licht hinter mir wird schwächer, und ich kann die Enttäuschung der dort auf mich Wartenden spüren.

      Es tut mir leid.

      Aber ich habe ihr mein Wort gegeben!

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       5.2.12

      Ich betrete den Korridor seines Hausboots und finde meinen Freund Norbu wie erwartet auf der kleinen Terrasse, wo er sich über das Notebook auf seinem Schoß beugt.

      »Wikipedia!«, stöhnt er, und es hört sich an wie ein unterdrückter Fluch. Ich mache uns den mitgebrachten Wein auf. Wo ich die Gläser finde, weiß ich ja.

      »Wenn es an die Grenzen geht, sind das alles fürchterliche Ideologen.« – »Welche Grenzen?«, frage ich.

      »Na, die der Wissenschaft.« Hier zum Beispiel, der Eintrag über Frederic Myers.« Er weist auf den Text auf seinem Display, aber ohne Brille erkenne ich nur unscharf das Logo und ein Foto. »Myers war einer der Gründer und später Präsident der Society for Psychical Research, die sich mit spiritistischen Themen beschäftigte. Von ihm stammt der Ausdruck ›Telepathie‹.« – »Nie gehört«, sage ich, und füge schnell an: »Von dem Mann, meine ich.«

      »Aber die Wikipedia-Editoren«, fährt er ungerührt fort, »unterschlagen seinen wichtigsten Beitrag.« – »Na ja«, wage ich einzuwenden, »Spiritismus und Telepathie, das sind nicht gerade Wikipedia-Themen.« Norbu sieht mich kopfschüttelnd an. »Müssen Sie aber sein. Ein Lexikon kann doch nicht einen Teil der Wirklichkeit ausblenden, nur weil er den Herausgebern und Autoren nicht gefällt.«

      Ich stoße mit ihm an, um ein wenig Zeit zu gewinnen. »Sind es nicht ganz unterschiedliche Autoren? Ich meine: Nicht zuletzt bist ja auch du mit dabei.« Norbu lacht gequält auf. »Sicher. Aber es gibt da die Entscheider, eine Art Priesterkaste, und bis da rauf haben’s meist die Ideologen geschafft, die dann mit fadenscheinigen Begründungen und teilweise kriegerischen Maßnahmen rauskürzen, was ihnen nicht in den Kram passt.« Ich nicke, um Verständnis zu bekunden: »Wie Telepathie.« – »Und alles, was sich dem szientistischen Credo entzieht.« Wissenschaftliches Glaubensbekenntnis? Ich lasse Norbu diesen Widerspruch mal durchgehen und erinnere ihn mit einem Fingerzeig an den alten bärtigen Mann auf seinem Display, der mich aus tiefer Schwärze heraus anblickt.

      »Nach seinem Tod«, erklärt mir mein Freund Norbu, »empfingen Medien aus aller Welt beim Automatischen Schreiben eigenartige Durchgaben, von denen viele mit ›Myers‹ unterzeichnet waren.« – »Du meinst, er meldete sich aus dem, äh, Totenreich?« Norbu nickt beflissen: »Aber nicht nur das. Die Texte ergaben keinen Sinn.« – »Aha«, sagte ich zufrieden, »dann muss es ja auch nicht in der Wikipedia stehen.« Damit fing ich mir einen bösen Blick von Norbu ein.

      Ich nahm noch einen Schluck vom Rotwein. Ganz schön trocken. Aber Norbu mag ihn so.

      »Erst unabhängige Beobachter konnten die Durchgaben – wie gesagt: Mitschriften verschiedener Medien in allen Teilen der Welt – zusammensetzen, und plötzlich ergab sich ein Zusammenhang. Sie bezogen sich alle aufeinander.« – »Wow«, entfährt es mir, »Telepathie!« Norbu schüttelt unwirsch den Kopf: »Eben nicht. Von wem immer diese Durchgaben stammten: Sie sollten ausschließen, dass die Medien telepathisch Kontakt zueinander hatten.« – »Also keine Telepathie«, sage ich und runzle die Stirn: Was denn dann?

      »Setzen wir Ockhams Rasiermesser an und gehen von der einfachsten Erklärung aus: Myers ist nach seinem Tod auf die Idee gekommen, wie er ein Fortleben der menschlichen Psyche beweisen kann: durch diese verstreuten Durchgaben an verschiedene Medien, die nur in ihrer Gesamtheit einen Sinn ergeben. Es waren Informationen darunter, zu denen nur sehr wenigen Menschen Zugang hatten. Und in rund dreißig Jahren kamen so mehr als dreitausend Texte zustande. Nur, dass davon nichts in der Wikipedia steht, weder der deutschen noch der englischen. Genauso wenig wie beim Artikel über ›Automatisches Schreiben‹ etwas vom Spiritismus steht und und und.«

      Norbu sieht mich auffordernd an. Doch ich kann ihm nicht so richtig zustimmen: »Vielleicht ist das auch besser so. Ich finde das sehr, äh, verstörend, was du mir da erzählst. Das mit den 3000 Durchgaben.« Ich nehme einen großen Schluck vom Wein und schenke mir nach. Je länger ich darüber nachdenke, desto unwohler wird mir unter dem Blick Myers’ von seiner Wikipedia-Seite.

      »Du bist genau wie die«, sagt Norbu und klappt sein Laptop enttäuscht zu. »Was nicht in dein schlaues Weltbild passt, wird rausgekickt.« – »Apropos«, sage ich, »Lust auf eine Partie?« Das Ablenkungsmanöver ist ein voller Erfolg: Kurze Zeit später stehen wir an Norbus Kicker und spielen die letzten Spiele der Champions League nach.

      Erst auf dem Heimweg – ein wenig schwankend, aber gutgelaunt – fällt mir dieser Myers wieder ein. Seltsamer Kerl. 3000 unsinnige Texte? Klingt wie etwas aus dem Internetzeitalter. Mit einem Blog aus dem Jenseits hätte er bestimmt mehr erreicht und es vielleicht sogar in die Wikipedia geschafft …

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       6.2.12

      Ich betrete den Korridor, und sogleich stoße ich auf – wie soll ich es beschreiben? – ein Tuch aus glasigem Frost, durch das die Sicht verschwimmt und Töne, wenn überhaupt, dann nur gedämpft hindurchdringen. Die hinter diesem Schleier sitzen – was ich ihnen zum Diktat, zur wortgetreuen Übermittlung zuzurufen versuche, bringen sie nur widerwillig und manches Mal begriffsstutzig zu Papier.

      Wie soll ich euch den Beweis nur zukommen lassen, solange dies die einzige Möglichkeit für mich ist, die Botschaft durchzugeben? Ich kann unmöglich wissen, wie viel ihr empfangt von dem, was ich euch sende. Wie nur kann ich euch überzeugen? Meinen fortwährenden Versuchen stehen unsagbare Schwierigkeiten entgegen, und dieses Gefühl einer schrecklichen Machtlosigkeit belastet mich schwer. Oh, es ist ein dunkler und grausamer Korridor! Aber ich will, ich darf einfach nicht nachlassen in meinem Bemühen …

      Myers

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       15.2.12

      Ich betrete den Korridor. Mein Freund Norbu scheint nicht an Bord zu sein, doch als ich etwas ratlos in seinem Wohnzimmer stehe, höre ich plötzlich Hammerschläge. Einbrecher? Nein, geht mir auf, wahrscheinlich Norbu, der er ein Leck abdichtet und dafür sorgt, dass