Cory d'Or

Korridorium – letzte Erkenntnisse


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Eichelhäher gesehen, doch das Wort schien ihr zu lang, um es per Augenbewegung an uns durchzugeben.

      Anderthalb Wochen nach diesem Versuch beobachte ich zufällig im Hof vor dem Flachbau, der unsere Labore beherbergt, unseren Hausmeister mit einem toten Eichelhäher in der Hand. Ich frage ihn danach, und er erklärt, seit unsere zwei Schornsteine mit chromglänzenden Metall verkleidet wurden, brechen sich auf dem Dach hin und wieder Vögel, die die Spiegelung für den Himmel halten, das Genick. Ich lasse mir von ihm auf dem Grundriss des Gebäudes die Fundstelle zeigen. Tatsächlich: Der tote Vogel lag genau über dem Schrank, auf dem wir unsere zufälligen Zeichnungen platziert hatten. Nur eben ein paar Meter höher auf dem Dach.

      Der Hausmeister, ein Mensch, der von uns Forschern allerhand Unsinn gewohnt ist, sah sich den Eichelhäher auf meine Frage hin genauer an, bohrte prüfend seinen Finger unter die Federn und meinte: »Klar kann der schon anderthalb Wochen da oben gelegen haben. Aber was macht das schon fürn Unterschied?« Ich bleibe ihm die Erklärung schuldig.

      Die Versuchsreihe hatten wir bereits abgebrochen, weil wir keine signifikanten und wiederholbaren Ergebnisse erzielen konnten. Zu vorschnell? Den Kollegen erzähle ich nichts von dem toten Vogel. Mit so einer Anekdote würden wir uns in Wissenschaftlerkreisen nur lächerlich machen.

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       15.3.12

      Ich betrete den Korridor. Es ist ein eigenartiges Gefühl, nach all den Jahren hierher zurückzukommen. Es sieht – auf den ersten Blick – alles noch genauso aus wie damals: die weiße Gewölbedecke, die schlichten Steinsäulen, die sich in regelmäßigen Abständen bis in die Ferne fortsetzen, der glatte, kühle Marmorboden unter meinen nackten Füßen – und das Wärterhäuschen, dem ich gleich zu Anfang gegenüberstehe. Der Troll öffnet das ovale Holztürchen im Fenster, um mit mir zu sprechen.

      »Wer sind Sie, und was suchen Sie hier?« Er klingt streng, aber das muss er ja auch sein. Er ist der Kontrolleur hier. Ich hatte ganz vergessen, dass er mir als Troll erscheint. Das habe ich mir nicht ausgedacht. Zumindest nicht bewusst.

      »Ich bin’s, der Boss. Ich wollte hier mal wieder nach dem Rechten sehen.«

      Der Troll sieht mich stirnrunzelnd an. »Haben Sie einen Termin? Haben Sie die Formulare ausgefüllt? Haben Sie einen Berechtigungsausweis oder eine Empfehlung? Sie können hier nämlich nicht einfach so …« – »He he he, mal langsam«, unterbreche ich ihn, »ich brauche das alles nicht. Ich bin hier der Chef. Und ich möchte mich gerne mit meinem Kontrolleur unterhalten.«

      »Das bin ich«, sagt der Troll in seinem Wärterhäuschen, bar jeden Humors.

      »Was ist deine Aufgabe?«, frage ich ihn. Er erläutert es mir. Der Troll hat, wie alle hier im ersten Teil des Korridors, einen recht begrenzten Horizont. Von daher ist es nicht überraschend, dass er mir erklärt, seine Aufgabe sei es, alles Mögliche zu kontrollieren, Tag und Nacht, weil es sonst sofort völlig aus dem Ruder laufen würde. Kontrolle sei das Allerwichtigste, und ohne ihn würde hier völliges Chaos ausbrechen. »Ich versuche nur, so gut wie möglich meinen Job zu machen«, sagt er.

      »Du machst das ganz großartig«, sage ich und meine es auch. Tatsächlich hat mir der innere Kontrolleur schon eine Menge Ärger erspart. Und über das Lob freut er sich sichtlich.

      Dann frage ich ihn, ob er mich mit den anderen im weiteren Verlauf des Korridors reden lässt, ohne kontrollierend einzugreifen. Es kommt zu einer kleinen Diskussion, aber schließlich ist er bereit, kurz Pause zu machen. Ich nicke ihm dankend zu und gehe am Wärterhäuschen vorbei tiefer in den Korridor.

      Hinter den seitlichen Bögen zwischen den Säulen öffnen sich unterschiedliche Räume. Sie werden von weiteren Figuren meines inneren Ensembles bewohnt, eindimensionalen Charakteren, wie sie manchmal auch in Mythen, Märchen und in der Popkultur vorkommen, Typen wie der Minotaurus, Chewbacca, der Zirkusclown (»Akrobat schööön!)«, Gollum (»Wir wollen ihn! Wir brauchen ihn! Wir müssen ihn haben, den Schatz!«) oder das Säbelzahneichhörnchen Scrat, die uns in ihrer Einfältigkeit manchmal tief im Inneren berühren.

      Ich höre ein Schluchzen.

      Es ist ein kleines, düsteres Zimmer mit einem zerschlissenen Bett. In einer Zimmerecke hockt ein Häufchen Elend. »Wer bist du?«, frage ich, aber ich weiß es schon. Es ist die Verzweifelte. Ein Schluchzen antwortet mir. »Was ist deine Aufgabe?«, frage ich. Sie wendet sich mir zu und beginnt stockend von ihren Erfahrungen zu berichten: Immer wieder geht sie voller Hoffnung los, doch dann lassen sie die Umstände, lassen andere Menschen sie verzweifeln. Das gehe schon ihr ganzes Leben lang so. Und da anscheinend niemand anderes bereit ist, diese Verzweiflung zu spüren und sich ihr auszusetzen, übernimmt halt sie diese Aufgabe – erklärt sie mir mit dicken Tränen in den Augen.

      Ich danke ihr für den selbstlosen Einsatz und verkneife mir ein zynisches »Gute Arbeit!« – stattdessen schlage ich dem kleinen, verheulten Mädchen vor, sich mal mit dem Methodiker zusammenzutun. Der wohnt ein Stück den Korridor runter. »Ziel formulieren, Arbeitsschritte definieren, methodisch abarbeiten!« – das habe ich noch von meinem letzten Zusammentreffen mit ihm im Ohr. Die beiden könnten ein gutes Paar abgeben.

      Mein nächster Besuch führt mich in das Arbeitszimmer des »Questologen«, wie ich ihn getauft habe: ein junger Mann mit Dreitagebart, Hut und einer zusammengerollten Peitsche am Gürtel, der im ganzen Zimmer Landkarten ausgebreitet hat, zwischen denen aufgeschlagene Bücher liegen. »Was ist deine Aufgabe?«, frage ich den inneren Sucher, und natürlich kennt auch er nur eins: suchen! Ständig ist er auf der Suche, nach der Liebe, der Antwort, dem Glück, dem Heil, dem Optimum, nach dem Weg, dem Sinn, der Bedeutung, der Erleuchtung … »Wie steht es mit dem Finden?«, frage ich schmunzelnd, aber tatsächlich ist der Sucher allein auf die Suche fixiert und fasst immer gleich, wenn er denn mal einen Treffer landen sollte, das nächste Ziel für die Suche ins Auge, die nächste Landmarke am Horizont.

      Auch ihm erbiete ich meinen Respekt, denn seine unstillbare Sehnsucht ist sehr wertvoll für mich, doch das registriert er, längst wieder in seine Land- und Schatzkarten vertieft, schon gar nicht mehr.

      Eigentlich will ich jetzt zum Tagträumer, aber beim Weitergehen bemerke ich einen Raum, der mir ganz unbekannt vorkommt. Er ist luxuriös eingerichtet und öffnet sich auf eine Terrasse zum Meer hin. In einem Deckstuhl entdecke ich einen etwas dickbäuchigen, am ganzen Körper behaarten Mann in Badehose. Neben ihm, auf dem Boden, in Greifweite: ein Cocktail und eine Schale mit Trauben.

      »Köstlich!«, ruft er. »Herrlich!«

      »Wer bist du?«, frage ich verblüfft. Der gehört zu mir?

      »Mmmh, musst du kosten! Die schmecken wirklich himmlisch!«

      Er schiebt mir die Trauben hin. Menschen, die ihre Sätze dauernd mit Ausrufezeichen abschließen, sind mir eigentlich suspekt. Aber ich probiere dann doch von den Trauben. Sie schmecken – nicht übel.

      »Aaaahh, die Sonne auf dem Bauch: Kann es was Schöneres geben? Und dieses Panorama! Und die leichte Brise ist auch nicht von schlechten Eltern! Dieser leichte Salzgeschmack!«

      »Was ist deine Aufgabe?«, frage ich. »Genießen!«, antwortet er mit einem genüsslich langezogenen ie. »Aus dem Vollen schöpfen! Mich an den schönen, leckeren, lustvollen, beglückenden Dingen ergötzen! Apropos …«, sagt er und wendet mir seinen ebenfalls behaarten Rücken zu, »könntest du mich eventuell kurz zwischen den Schulterblättern kratzen?«

      Ich zögere kurz, tue ihm dann aber den Gefallen.

      »Etwas tiefer noch, jaaa! Oh, ist das gut, ooohh, genau richtig, wunderbar!« Auch die ganz kleinen Dinge können sehr genussvoll sein, denke ich und danke dem Genießer für die Inspiration.

      Ich betrete wieder den Korridor. Es wird Zeit, weiterzugehen in den nächsten Abschnitt. Nach hinten hin wird es heller: Boden, Wände, die Säulen, die Decke – das alles scheint aus sich selbst heraus zu leuchten. Hier begegne ich weiteren Facetten, nur dass diese hier transpersonal sind: Es sind die Seelenanteile, die über die begrenzte menschliche Sichtweise hinauswachsen und im großen