Charles Dickens

Weihnachtsmärchen auf 359 Seiten


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»Als ich lebte, war ich Euer Kompagnon, Jacob Marley.«

       »Könnt Ihr Euch setzen?« fragte Scrooge und sah ihn zweifelnd

       an.

       »Ich kann es.«

       »So tut's.«

       Scrooge fragte nur, weil er nicht wußte, ob sich ein so

       durchsichtiger Geist setzen könne, und er fühlte die

       Notwendigkeit einer unangenehmen Erklärung, wenn es ihm nicht

       möglich wäre. Aber der Geist setzte sich auf der anderen Seite

       des Kamins nieder, als sei er so gewohnt.

       »Ihr glaubt nicht an mich?« fragte der Geist.

       »Nein«, sagte Scrooge.

       »Welches Zeugnis, außer dem Eurer Sinne, wollt Ihr von meiner

       Wirklichkeit haben?«

       »Ich weiß nicht«, sprach Scrooge.

       »Warum glaubt Ihr Euren Sinnen nicht?«

       »Warum glaubt Ihr Euren Sinnen nicht?«

       »Weil sie die geringste Kleinigkeit stört«, entgegnete Scrooge.

       »Eine kleine Unpäßlichkeit des Magens macht sie zu Lügnern.

       Ihr könnt ein unverdautes Stück Rindfleisch, ein Käserindchen,

       ein Stückchen schlechter Kartoffeln sein.

       15

       Wer Ihr auch sein möget, Ihr habt mehr vom Unterleib, als von

       der Unterwelt an Euch.«

       Es war nicht eben Scrooges Gewohnheit, Witze zu machen, auch

       fühlte er eben jetzt keine besondere Lust dazu. Die Wahrheit ist,

       daß er sich bestrebte lustig zu sein, um s ich zu erleichtern und

       sein Entsetzen niederzuhalten; denn die Stimme des Geistes ließ

       ihn bis ins Mark erzittern.

       Diesen starren, toten Augen nur einen Augenblick schweigend

       gegenüberzusitzen, wäre teuflisch gewesen, das fühlte Scrooge

       wohl. Auch daß das Gespenst seine eigene höllische Atmosphäre

       hatte, war so grauenerregend.

       Scrooge fühlte sie nicht selbst, aber doch mußte es so sein; denn

       obgleich das Gespenst ganz regungslos dasaß, bewegten sich

       sein Haar, seine Rockschöße und seine Stiefeltroddeln wie von

       dem heißen Dunst eines Ofens.

       »Ihr seht diesen Zahnstocher«, sprach Scrooge, seinen Angriff

       aus dem eben angeführten Grunde sogleich aufs neue beginnend

       und von dem Wunsch beseelt, den starren, eisigen Blick des

       Gespenstes, wenn auch nur für einen Augenblick, von sich

       abzulenken.

       »Ja«, antwortete der Geist.

       »Ihr schaut ihn ja nicht an«, sagte Scrooge.

       »Aber ich sehe ihn trotzdem«, sprach das Gespenst.

       »Gut denn«, antwortete Scrooge. »Ich brauche ihn nur

       hinunterzuschlucken und mein ganzes übriges Leben hindurch

       verfolgen mich eine Legion Kobolde, die ich selbst erschaffen

       habe. Dummes Zeug, sag ich, dummes Zeug!«

       Bei diesen Worten stieß das Gespenst einen markerschütternden

       Schrei aus und ließ seine Kette so grauenerregend und

       fürchterlich klirren, daß sich Scrooge fest an seinen Stuhl halten

       mußte, um nicht ohnmächtig herunterzufallen. Aber wie wuchs

       sein Entsetzen, als das Gespenst das Tuch von dem Kopfe

       nahm, als wär es ihm zu warm im Zimmer, so daß der

       Unterkiefer auf die Brust herunterklappte.

       Scrooge fiel auf die Knie nieder und schlug die Hände vors

       Gesicht.

       »Gnade!« rief er. »Schreckliche Erscheinung, warum verfolgst du

       mich?«

       »Mensch mit dem irdisch gesinnten Verstand«, entgegnete der

       Geist, »glaubst du an mich oder nicht?«

       16

       »Ich glaube«, sagte Scrooge, »ich muß glauben. Aber warum

       »Ich glaube«, sagte Scrooge, »ich muß glauben. Aber warum

       wandeln Geister auf Erden, und warum kommen sie zu mir?«

       »Von jedem Menschen wird verlangt, daß seine Seele unter

       seinen Mitmenschen wandle, in die Ferne und in die Nähe«,

       antwortete der Geist; »und wenn die Seele dies während des

       Lebens nicht tut, so ist sie verdammt, es nach dem Tode zu tun.

       Man ist verdammt, durch die Welt zu wandern - ach, wehe mir!

       - und zu sehen, was man nicht teilen kann, was man aber auf

       Erden hätte teilen können und zu seinem Glück anwenden sol

       en.«

       Und wieder stieß das Gespenst einen Schrei aus und schüttelte

       seine Ketten und rang die schattenhaften Hände.

       »Du bist gefesselt«, sagte Scrooge zitternd. »Sage mir, warum?«

       »Ich trage die Kette, die ich während meines Lebens

       geschmiedet habe«, sprach der Geist. »Ich schmiedete sie Glied

       für Glied und Elle für Elle; mit meinem eigenen freien Willen lud

       ich sie mir auf, und mit meinem eigenen freien Willen trug ich sie.

       Ihre Glieder kommen dir seltsam vor?«

       Scrooge zitterte mehr und mehr.

       »Oder willst du wissen«, fuhr der Geist fort, »wie schwer und

       wie lang die Kette ist, die du selber trägst? Sie war gerade so

       lang und so schwer wie diese hier, vor sieben Weihnachten.

       Seitdem hast du daran gearbeitet! Es ist eine schwere Kette.«

       Seitdem hast du daran gearbeitet! Es ist eine schwere Kette.«

       Scrooge sah auf den Boden hinab, in der Erwartung, sich von

       fünfzig oder sechzig Ellen Eisenkette umschlungen zu sehen; aber

       er sah nichts.

       »Jacob«, sagte er flehend. »Jacob Marley, sage mir mehr. Sprich

       mir Trost zu, Jacob.«

       »Ich habe keinen Trost zu geben«, antwortete der Geist. »Er

       kommt von andern Regionen, Ebenezer Scrooge, und wird von

       andern Boten zu andern Menschen gebracht. Auch kann ich dir

       nicht sagen, was ich dir sagen möchte.

       Ein klein wenig mehr ist alles, was mir erlaubt ist. Nirgends kann

       ich rasten oder ruhen. Mein Geist ging nie über unser Kontor

       hinaus - merke wohl auf - im Leben blieb mein Geist immer in

       den engen Grenzen unsrer schachernden Höhle; und weite

       Reisen liegen noch vor mir.«

       Scrooge hatte die Gewohnheit, wenn er nachdenklich wurde, die

       Hand in die Hosentasche zu stecken.

       Über das nachsinnend, was der Geist sagte, tat er es auch