Tessa Koch

Liebe ist tödlich


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bis man eines Tages keinen anderen Ausweg mehr sieht, als sich den Lauf einer Knarre in den Mund zu stecken und abzudrücken. Nichts wird dann je wieder so sein, wie es einmal war, sobald sie den Schmerz zu lässt, der sie zerstören will. Und das weiß Lela. Deswegen versucht sie, eben jenen Schmerz zu verdrängen, ihm aus dem Weg zu gehen und zu versuchen, ihn zu besiegen.

      Denn sie möchte leben.

      Sie hält den Arztbericht, der bezeugt, dass sie vergewaltigt worden ist, fest in den Händen. Sie weiß, dass es makaber, beinahe krank ist, doch irgendwie spendet ihr dieses Stück Papier Hoffnung und Trost. Ebenso wie die Fotos von Helens Leiche ihr nach der Vergewaltigung Hoffnung und Trost gespendet haben. Ebenso wie die anderen Beweise und Indizien, die bereits gegen Leon gesammelt worden sind, ihr Hoffnung und Trost spenden. Denn sie beweisen, dass Leon tatsächlich das ist, als das sie ihn beschuldigt. Ein Monster.

      Und Monster gehören bestraft.

      Mit einem leisen Seufzen legt sie den Bericht auf ihren Nachttisch. Draußen ist es dunkel, der Wecker bestätigt, dass es weit nach zwei Uhr morgens ist. Doch Lela kann, so wie die letzten Tage zuvor auch schon, nicht schlafen. Beziehungsweise will sie nicht schlafen. Die Angst vor den Dingen, die sie in ihren Träumen sehen könnte, von der Ermordung Helens, über das erneute Durchleben jenes schrecklichen Abends, an dem er über sie herfiel, bis zu dem fiktiven Traum, dass er entkommen und ihr erneut auflauern könnte, lassen sie einfach keinen Schlaf finden. Doch sie weiß, dass sie Schlaf braucht. Denn ihr Körper ist erschöpft, kraftlos und ausgezerrt. In diesem Zustand beginnt sie auch mit wachem Bewusstsein hinter jeder Ecke Leon zu sehen, seine Stimme leise flüstern zu hören oder sein markantes Aftershave zu riechen. Der Schlafentzug lässt sie langsam wahnsinnig und paranoid werden.

      Es ist beinahe genauso schlimm wie die nächtlichen Albträume.

      Wieder seufzt sie leise, als sie sich unter die Bettdecke legt. Sie verspürt den Drang das Licht anzulassen, doch sie weiß, dass es kindisch und auch ein Stück weit lächerlich ist. Leon ist auf der Flucht. Vielleicht befindet er sich nicht einmal mehr in Deutschland. Auf jeden Fall wird er nicht unter ihrem Bett lauern und auf die Gelegenheit warten, sie erneut überwältigen zu können.

      Es ist merkwürdig, dass sie dennoch genau davor Angst hat.

      Sie knipst das Licht aus und presst ihre Augenlider fest aufeinander, um den Schatten zu entgehen, in denen sie Bedrohung, Angst und den Tod lesen kann. Doch sie glaubt inzwischen, dass es weitaus schlimmere Dinge gibt als den Tod, auch wenn er grausam sein mag. Seelische Folter zum Beispiel. Das, was sie gerade durchlebt.

      Als sie nach stundenlangem hin und her Wälzen schließlich in einen unruhigen Schlaf fällt, träumt sie wieder von Leon. Sie befindet sich in einem kahlen, kalten Raum mit einem winzigen Fenster, durch das nur wenig Licht fällt. Sie ist nackt, ihr ist kalt und sie hat Hunger und Durst. Ihr Körper ist mit Schnitten und Blutergüssen übersät, ihr Unterleib schmerzt und Blut rinnt ihre Oberschenkel hinab. Doch es gibt kein Entkommen. Die hohe Holztür ist abgeschlossen, sie kann nur in das angrenzende Badezimmer gehen, das ebenso kahl und kalt ist und ein ebenso winziges Fenster hat. Sie weiß nicht, wie lange sie schon hier ist, Zeit ist relativ geworden für sie. Es gibt nur noch die Unendlichkeit. Und Leon.

      Sie weiß, dass sie ihm nicht entkommen kann. Sie kann nur auf die Hilfe von außen warten, die gewiss kommen wird, die kommen muss, da ihr Verschwinden inzwischen längst bemerkt worden sein muss. Sie weiß nur noch nicht, ob es dann nicht bereits schon zu spät sein wird. Denn bis dahin kann Leon machen, was immer er will. Er kann sie leiden lassen. Sie langsam sterben lassen. Denn sie ist seine Gefangene. Und es gibt kein Entkommen.

      Lela schreckt aus ihrem Traum auf. Ihre Hand fährt augenblicklich zur Lampe und schaltet diese ein. Das Licht erhellt ihr Zimmer und präsentiert es ihr in seiner ganzen Harmlosigkeit. Es war nur ein Traum. Ein Albtraum. Langsam lässt Lela sich wieder in die Kissen sinken. Ihr Herz rast, ihr Atem geht viel zu schnell und sie ist schweißgebadet.

      Eine kleine Stimme in ihrem Inneren flüstert, dass dieser Albtraum bald Realität werden kann.

      Kapitel 18

      Stella hält Lelas Hand fest in ihrer, während sie im Wartezimmer sitzen. Sie hat Angst, sie zu fest zu drücken, da sie befürchtet, sie sonst einfach zwischen ihren Fingern zerbrechen zu können. Lela hat in den letzten Monaten stark abgenommen, ihre Haut ist blasser als sie es früher einmal war. Sie hat sich verändert. Sehr.

      Natürlich kann Stella es ihr nicht vorwerfen. Es sind nun drei Monate vergangen, in denen die Polizei keine verdammte Spur zu Leon gefunden hat. Jeder einzelne Hinweis, alles, was sie hatten, ist ins Leere verlaufen. Es gibt keine Anhaltspunkte, keine Zeugen, keine Videoaufnahmen, einfach nichts, was den Aufenthaltsort von Leon preisgeben könnte. Es scheint beinahe so, als sei Leon vom Erdboden verschlungen worden.

      Wären da nicht die Briefe.

      Es hat in der zweiten Woche seines Verschwindens begonnen, dass Leon an Lela Briefe schreibt. Es sind keine wirklichen Drohbriefe, natürlich auch keine reinen Liebesbriefe, sondern eher eine Mischung aus beidem. Zum einen schreibt er ihr, wie sehr er sie vermisst, dass er sie liebt, und ohne sie nicht sein möchte. Und zum anderen beschreibt er detailliert, was er alles tun wird, wenn er sie nur in seinen Fängen hat, wenn sich ihm die Gelegenheit bieten sollte, sie endlich in seine Gewalt zu bekommen. Es ist widerlich. Diese Art, auf der er mit ihrer Angst spielt. Er bringt sie durch diese Briefe dazu, nicht mehr zu essen, kaum noch zu schlafen, einfach nicht mehr zu leben. Er nimmt ihr die Lebensfreude und schenkt ihr die Furcht. Und Stella kann nichts dagegen tun.

      Als Leon begonnen hat diese Briefe zu schreiben, hat man Lela einen Stalking-Experten zugeteilt, der ihr helfen soll, mit seinen Briefen zu Recht zu kommen. Stella schätzt die bedingungslose Hilfe, die Lars ihr und Lela zuteilwerden lässt, da sie weiß, dass Lela ebendiese Hilfe benötigt. Und ein wichtiges Ziel hat Lars bereits erreicht: Dass Lela keine Angst mehr vor Männern empfindet.

      Natürlich kann Stella nachempfinden, dass Lela, nachdem sie der Mann, dem sie wohl am meisten vertraut hat, dermaßen verletzt und zerbrochen hat, eine Scheu vor anderen Männern und ein gewisses Misstrauen entwickelt hat. Dennoch kann sie nicht leugnen, dass es anstrengend gewesen ist, Lela langsam wieder an die Normalität des Lebens – zu dem nun einmal auch die männlichen Geschöpfe dieser Erde zählen – heranzuführen. Doch mit Lars an ihrer Seite, der zu Beginn sehr behutsam und nachsichtig mit Lela hat sein müssen, hat sie es geschafft, sie langsam wieder zurückzuführen. Lela hat beinahe wieder begonnen normal zu leben.

      Bis sie die Hiobsbotschaft vor zwei Wochen erreicht hat.

      Weder Stella noch Lela haben sich etwas gedacht, als Lela sich in den Wochen nach ihrer Vergewaltigung zu übergeben begann und über Unterleibsschmerzen klagte. Sie haben es mit der Vergewaltigung und der psychischen Belastung erklärt, die schwer an Lelas Gesundheit gerüttelt haben. Doch als bald darauf Lelas Periode ausgeblieben ist, haben sie begonnen eine andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen.

      Als Lela schließlich den Mut aufgebracht hat, einen Test in der Apotheke zu kaufen, hat dieser ihre Ängste bestätigt: Sie ist schwanger. Leon hat sie nicht nur geschlagen, gedemütigt, gefoltert und vergewaltigt, sondern zudem noch einen Teil von sich in ihr gelassen, der nun, jetzt, in diesem Moment, dabei ist in ihr zu wachsen und heranzureifen.

      Doch Lela hat vom ersten Augenblick an gewusst, dass sie dieses Ding nicht austragen möchte.

      Als ihr Name aufgerufen wird, erhebt sie sich. Sie glaubt, dass es das erste Mal seit Wochen, wenn nicht sogar seit Monaten ist, dass sie wieder einen Hauch von Nervosität verspürt. Stella begleitet sie bis zu dem Behandlungszimmer und hält währenddessen ihre Hand. Als Lela sie loslassen muss, da sie weiß, dass Stella sie nicht begleiten darf, verspürt sie mit einem Mal das Gefühl, vollkommen schutzlos und verletzlich zu sein.

      Sie mag den Kittel, den man sie anzuziehen bittet, nicht, streift dennoch widerwillig ihre Klamotten ab und schlüpft in das Ding. Sie fühlt sich lächerlich und hässlich. Auf den Wunsch der Schwester hin setzt sie sich schon einmal auf den Stuhl. Sie besieht sich die Instrumente,