Frank Springer

Philipps Entscheidung


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er etwas unternehmen konnte. Dort hatte er immer schnell Freunde gefunden. Vor zwei Jahren hatte er sogar einen Jungen aus Amerika kennen gelernt, mit dem er sich noch jetzt regelmäßig E-Mails schrieb. Philipp konnte nur hoffen, dass er in dem kleinen Gästehaus, in dem sie ihren Urlaub verbringen wollten, einen Jungen in seinem Alter fand, mit dem er die Gegend unsicher machen konnte. Die Aussichten dafür standen aber denkbar schlecht, da das kleine Haus nur wenigen Familien Platz bot.

      Nach einigen Stunden erreichten sie ihr Ziel. Dabei dauerte die Fahrt nicht wegen der Entfernung so lange, sondern weil sie den letzten Teil des Weges auf kleinen, schmalen Straßen fahren mussten. Die Pension lag noch etwas außerhalb eines kleinen Örtchens fast direkt an der Ostsee. Schon von Weitem sahen sie den roten Backsteinbau. Auf einem Schild über der Eingangstür stand „Haus Petersen“. Das Haus war nicht viel größer als das Einfamilienhaus, in dem Philipp mit seinen Eltern und Schwestern am Stadtrand von Hamburg wohnte.

      Philipps Vater hielt mit dem Auto vor dem Haus. Sie waren kaum ausgestiegen, da ging die Haustür auf und ein Mann kam heraus auf sie zu. Offenbar hatte er die Neuankömmlinge bereits bemerkt. Es war ein großer, kräftiger Mann mit einem Vollbart. Er trug ein rotes Halstuch und ein blaues Hemd mit weißen Streifen, wie es Fischer tragen.

       Der Mann begrüßte seine neuen Gäste herzlich mit einer rauen, dunklen Stimme: „Schönen guten Tag und herzlich willkommen hier in meinem Haus. Ich bin Petersen.“

       Philipp hörte sofort, dass hier das Norddeutsch ganz anders klang als zu Hause in Hamburg.

       Herr Petersen schaute auf das Nummernschild des Autos und fuhr fort: „Sie müssen die Schneiders aus Hamburg sein, die Kurzentschlossenen.“

       „Ganz recht“, antwortete Philipps Vater, „genau die sind wir. Seien sie ebenfalls herzlich gegrüßt.“

       Herr Petersen fuhr fort: „Ich erwarte noch zwei weitere Familien als Feriengäste. Die werden aber erst später kommen, da sie einen viel weiteren Weg haben.“

       Dann gab Herr Petersen allen höflich die Hand und sagte: „Na, dann kommen Sie bitte herein. Ich zeige Ihnen, wo Sie die nächsten drei Wochen wohnen werden.“

       Philipps Vater schlug vor: „Wir nehmen gleich das Gepäck mit, dann müssen wir nicht zweimal laufen.“

      Mit diesen Worten ging Philipps Vater ums Auto herum und öffnete den Kofferraum. Als Herr Petersen das viele Gepäck sah, pfiff er kurz auf zwei Fingern seiner rechten Hand. Einen kurzen Augenblick später kam ein nahezu weißblonder Junge hinter dem Haus hervor.

       Er begrüßte die Anwesenden freundlich aber kurz mit: „Moin!“

       Der Junge war etwa so alt wie Philipp. Er war nur etwas größer und kräftig gebaut. Dabei war er keinesfalls dick, sondern eher sportlich. Der Junge sah Herrn Petersen sehr ähnlich, so dass Philipp sofort vermutete, dass er sein Sohn sein musste. Seine kurzen, struppigen Haare wirkten so, als hätten sämtliche Stürme aller Weltmeere sie zerzaust. Er trug eine blaue Latzhose und einen weiten Sommerpullover. Philipp war sehr erfreut, einen Jungen in seinem Alter hier anzutreffen. Zumal der Junge so aussah, als wenn man allerlei Aufregendes mit ihm anstellen könnte. Es war für Philipp der erste Lichtblick in dem bislang unerfreulichen Urlaub.

      Ohne zu fragen ging der Junge zu Philipps Vater an den Kofferraum und griff sich zwei große Koffer. Damit schritt er auf den Hauseingang zu.

       Herr Petersen rief dem Jungen zu: „Die Schneiders kommen in Zimmer drei und vier.“

       „Geht klar“, antwortete der Junge und verschwand mit den Koffern im Haus.

       Philipp bekam ein schlechtes Gewissen, weil der Junge so viel tragen musste. Daher ging er zum Auto und nahm seine große Reisetasche selbst heraus. Er lief damit dem Jungen hinterher ins Haus. Die übrigen Familienmitglieder und Herr Petersen folgten mit dem restlichen Gepäck. Der blonde Junge stieg eine Holztreppe hinauf. Im ersten Stock öffnete er eine Zimmertür und stellte die Koffer hinein. Mit einem „Bitte sehr“ verschwand er wieder nach draußen, ohne sich noch einmal umzudrehen.

      Herr Petersen blieb mit der Familie Schneider oben und zeigte ihnen die Räume. Philipps jüngste Schwester Mimmi sollte mit ihren Eltern in dem einen der beiden Zimmer schlafen. Herr Petersen hatte dort ein zusätzliches Bett für sie aufgestellt. Dann kam aber der nächste Schock für Philipp. Er sollte sich gemeinsam mit seiner Schwester Isabelle das andere Zimmer teilen. Einzelzimmer gab es in der kleinen Pension nicht. Philipp war empört. Zuhause hatten alle drei Kinder ihr eigenes Zimmer. Nun sollte er hier auf seine Privatsphäre verzichten.

       Wütend sagte Philipp: „Das kommt gar nicht in Frage. Ich schlaf doch nicht mit meiner Schwester in einem Zimmer.“

       Isabelle erwiderte ihm frech: „Du kannst ja mit Mimmi tauschen und bei den Eltern schlafen, wenn dir das lieber ist.“

       Das wollte Philipp erst recht nicht. Damit war aber noch nicht genug. Von den komfortablen Hotels war Philipp es gewohnt, ein eigenes Bad in seinem Zimmer zu haben. Hier zeigte ihnen Herr Petersen jedoch ein Badezimmer am Ende des Ganges, das alle Gäste gemeinsam benutzen mussten. Danach wünschte Herr Petersen noch einen angenehmen Aufenthalt und ließ die Schneiders allein in ihren Zimmern.

       Philipp war außer sich: „Hier bleibe ich keine zwei Minuten.“

       Isabelle sagte dreist zu ihm: „Sei froh, dass es hier kein Plumpsklo quer über den Hof gibt.“

       „Das fehlte noch“, schnaubte Philipp vor Zorn.

      Sie packten ihre Sachen aus. Isabelle sortierte den Inhalt ihres Koffers sorgfältig in den Kleiderschrank ein. Philipp hingegen stopfte nur seine Reisetasche unausgepackt unten in den Schrank. Nachdem das Gepäck verstaut war, erforschten die Schneiders etwas das Haus. Nirgendwo gab es ein Fernsehgerät oder einen Anschluss für einen Computer. Selbst ihre Handys hatten hier keinen Empfang.

       Philipps Wut darüber steigerte sich immer mehr: „Wie soll ich hier nur die nächsten Tage überstehen, wenn es noch nicht einmal das Allernotwendigste gibt. Wir sind hier völlig von der Außenwelt abgeschnitten.“

       Philipps Mutter entgegnete: „Freu dich doch, dann können wir unseren Urlaub ungestört in Ruhe genießen.“

      Anschließend machte die gesamte Familie Schneider einen kleinen Spaziergang, um die Umgebung zu erkunden. Von dem Haus war es nicht weit bis zur See. Dort gab es einen schönen Strand, der abseits der öffentlichen Badestrände lag. Der Sand war weiß und fein. Anschließend gingen die fünf in den kleinen Ort, der nur aus einer Straße bestand. In dem einzigen Geschäft, das es dort gab, kaufte Philipps Mutter einen Stapel Ansichtskarten und ein Mitbringsel als Dank für die Nachbarn, die in der Zwischenzeit auf ihr Haus in Hamburg aufpassten.

      Als die Schneiders wieder in die Pension zurückkehrten, kamen sie gerade rechtzeitig zum Abendessen. Im Erdgeschoss befand sich ein großer Raum, der den Gästen als Aufenthaltsraum und als Speiseraum diente. Es gab zum Abendessen ein leckeres Bauernfrühstück, das Herr Petersen selbst zubereitet hatte. Philipps Stimmung besserte sich dadurch etwas, da er gerne Bauernfrühstück aß. Trotzdem war er mit dem bisherigen Verlauf seines Urlaubs alles andere als zufrieden. Nach dem Essen saßen die Schneiders im Aufenthaltsraum zusammen. Frau Schneider schrieb ihre ersten Ansichtskarten, Herr Schneider las in einer Zeitung, die auf einem kleinen Tischchen für die Gäste bereit lag, und die beiden Mädchen spielten ein Brettspiel, das sie sich aus einem Schränkchen genommen hatten. Nur Philipp saß da und blies Trübsal. Er dachte an den Jungen, der ihnen mit dem Gepäck geholfen hatte. Philipp fragte sich, ob er ihn wiedersehen würde und ob sie dann zusammen etwas Spannendes erleben könnten.

      Es wurde spät und die anderen Gäste waren immer noch nicht eingetroffen, obwohl es schon lange dunkel war. Schließlich gingen die Schneiders hinauf in ihre Zimmer. Philipp zog sich im Zimmer um, während sich seine Schwester Isabelle im Badezimmer für die Nacht zurechtmachte. Immerhin gab es im Zimmer ein Waschbecken, an dem Philipp sich waschen und die Zähne putzen konnte. Philipp musste sich mit seiner Schwester nicht nur das Zimmer, sondern auch das Ehebett darin teilen. Er konnte nicht einschlafen, da er es nicht gewohnt war, mit jemandem anderen in einem Zimmer zu schlafen. Es störte ihn, dass seine Schwester neben ihm lag und im Schlaf herumwühlte.

      Dann