Frank Springer

Philipps Entscheidung


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Der Sturm

      Als Philipp den Speiseraum betrat, saßen seine Eltern und Schwestern bereits am Tisch. Er setzte sich schnell zu ihnen. Es gab einen leichten Imbiss, der nach dem Strandaufenthalt genau das Richtige war. Nur Philipp aß mit wenig Appetit. Er musste zuerst die vorangegangene Enttäuschung verdauen. Nach dem Essen gingen alle Gäste wieder hinaus an den Strand. Schon eine halbe Stunde später mussten sie aber zum Haus zurückkehren, da sich dicke Wolken vor die Sonne geschoben hatten und es zu kühl für den Strand wurde.

       Philipp fühlte sich bestätigt: „Ich habe es ja gleich gewusst. Hier ist das Wetter viel zu unbeständig. Wir hätten doch ins Ausland fahren sollen.“

       Herr Petersen schaute auf den Himmel und sagte: „Da braut sich ganz schön was zusammen. Es kommt heute noch mächtig was auf uns zu. Das geht schnell hier an der See. Dafür bleibt das Wetter nie lange schlecht. Morgen scheint die Sonne wieder.“

       „Na, hoffentlich“, brummte Philipp.

       „Kannst ’nem alten Seebär ruhig glauben“, entgegnete Herr Petersen freundlich.

      Die Feriengäste beschäftigten sich bis zum Abend im Aufenthaltsraum. Philipp las sein Buch weiter und nahm von den anderen keinerlei Notiz. Draußen fing es heftig zu stürmen an. Der Wind heulte nur so ums Haus und der Regen prasselte an die Fensterscheiben. Zum Abendessen wurde tatsächlich der Fisch serviert, der nun schmackhaft zubereitet war. Philipp aß ihn mit großem Appetit. Immerhin war das Essen hier gut. Das war für Philipp aber auch das einzige Erfreuliche bei dieser Urlaubsreise.

      Nach dem Abendessen veranstaltete Herr Petersen mit seinen Gästen einen bunten Willkommensabend. Für die Erwachsenen gab es steifen Grog zu trinken und die Kinder bekamen Kinderpunsch. Frau Petersen kam auch dazu. Sie arbeitete tagsüber bei einer Reederei und kam abends meist erst spät nach Hause.

      Um seine Gäste zu unterhalten, stellte sich Herr Petersen in die Mitte des Raumes und begann mit seiner rauen, dunklen Stimme zu erzählen. Früher war er selbst als Fischer zur See gefahren, aber die harte körperliche Arbeit bei Wind und Wetter schadete seiner Gesundheit und er konnte nicht länger diesen anstrengenden Beruf ausüben. Daher verkaufte er seinen Anteil an dem Fischkutter und übernahm davon die Pension, die er nun bewirtschaftete. Nach diesen einleitenden Worten fing Herr Petersen an, richtiges Seemannsgarn zu spinnen. Er erzählte die unglaublichsten Geschichten vom Klabautermann und von Seeungeheuern. Wenn es besonders gruselig wurde, flüchteten sich Mimmi und Lenni auf den Schoß ihrer Eltern. Die beiden Kleinen waren es aber auch, die am lautesten lachten, wenn die Geschichten doch ein lustiges Ende nahmen.

      Philipp hatte zunächst gar nicht bemerkt, dass Wibke inzwischen den Raum betreten hatte. Sie holte ein Schifferklavier hervor und spielte darauf. Philipp bewunderte Wibke, wie geschickt ihre kräftigen Finger dabei über die Tasten und Knöpfe glitten. Er selbst konnte kein Instrument spielen und war immer fasziniert, wenn andere Kinder darin so geübt waren. Ihr Vater sang dazu Seemannslieder. Alle waren in ausgelassener Stimmung und vergaßen dabei, dass draußen der Sturm tobte. Auch Philipp war nicht mehr ganz so trübsinnig. Immerhin erinnerte ihn dies hier an die bunten Abende, wie sie in den großen Ferienparadiesen veranstaltet wurden.

      Es wurde spät. Mimmi war bereits in den Armen ihres Vaters eingeschlafen und Lenni schlief auch schon auf dem Schoß seiner Mutter. Philipp ging in sein Zimmer und fiel ins Bett. Er ließ sich weder von seiner Schwester noch von dem brausenden Sturm beim Schlafen stören.

      Tatsächlich hatte sich der schwere Sturm über Nacht gelegt und am nächsten Morgen schien die Sonne wieder. Trotzdem wehte noch ein leichter Wind und die Luft war zu kühl, um am Strand baden zu gehen.

       Als alle Gäste im Speiseraum beim Frühstück versammelt waren, kam Wibke herein und stellte sich mitten in den Raum.

       Mit lauter Stimme verkündete sie: „Heute Nacht hatten wir einen kräftigen Sturm. Bei so einem Sturm wird besonders viel Treibgut angespült. Wer von den Kindern mag nach dem Frühstück mit mir zum Strand kommen und sich dort umsehen?“

       Sofort waren alle Kinder bereit. Selbst Hans-Georg wollte freiwillig mitkommen. Philipp überlegte, da er sich für so eine Kinderveranstaltung zu alt fühlte. Ihm fiel jedoch nichts Besseres ein, so dass er sich anschloss.

      Die Kinder trafen sich nach dem Frühstück vor dem Haus mit Wibke und machten sich gemeinsam mit ihr auf den Weg zum Strand. Wibke hatte ihre Latzhose bis über die Knie hochgekrempelt und trug einen dicken, warmen Troyer. Philipp hatte sich über seine Shorts noch eine winddichte Jacke gezogen. Josephine trug wieder ihr Strandkleid und darüber eine dicke Strickjacke. Auch die anderen Kinder hatten sich ebenfalls entsprechend gekleidet. Alle waren barfuß, nur Hans-Georg trug als einziger Gummistiefel. So liefen sie zum Strand hinunter.

      Im Gänsemarsch gingen die Kinder hinter Wibke her am Spülsaum entlang. Der Sturm hatte Unmengen an Seetang angespült. Dazwischen lagen viele Kunststoffabfälle verstreut, die von den Schiffen in die See gekippt worden waren.

       „Igitt, was soll das denn?“, sagte Isabelle angewidert dazu.

       Wibke bestätigte sie: „Ja, das ist eine ganz üble Schweinerei, was alles ins Meer geworfen wird.“

       Sie sammelte den Müll in eine große Tüte, um den Strand sauber zu halten.

       Dazu sagte sie: „Hier macht keine Kurverwaltung sauber, wie am öffentlichen Badestrand. Hier müssen wir schon selbst für Ordnung sorgen.“

      Die Kinderschar ging langsam weiter. Mimmi und Lenni hatten in ihre Eimerchen schon viele Muschelschalen eingesammelt.

       Plötzlich rief Mimmi: „Schaut mal, was ich hier gefunden habe!“

       In ihrer kleinen Hand hielt sie einen Seestern, der gerade so groß war, dass er ihre Handfläche bedeckte.

       Wibke erklärte: „Die findet man nur selten am Strand. Normalerweise leben Seesterne in etwas tieferem Wasser. Nach einem kräftigen Sturm können sie schon mal angespült werden.“

       Mimmi lachte: „Das kitzelt lustig in meiner Hand.“

       Wibke lächelte und sagte: „Das sind seine kleinen Saugfüße, was da kitzelt.“

       Sie drehte den Seestern um, damit alle Kinder die Füßchen sehen konnten.

      Nun wollten alle den kleinen Seestern anfassen und in die Hand nehmen. Wibke reichte ihn weiter. Auch Philipp nahm ihn. Nur Hans-Georg weigerte sich, das Tier zu berühren. Wibke nahm den Seestern und packte Hans-Georg fest am Arm.

       Hans-Georg wollte schreien, aber Wibke sagte sanft zu ihm: „Das ist doch nur ein kleines Tier. Das tu dir nichts.“

       Dann setzte sie den Seestern auf seinen Handrücken. Es war deutlich zu erkennen, wie sehr Hans-Georg mit seiner Angst kämpfte, aber solange Wibke seine Hand hielt, blieb er ruhig. Anschließend legte Wibke den Seestern zurück ins Wasser.

       Mimmi und Lenni maulten: „Können wir den nicht behalten? Der ist so niedlich.“

       Wibke lachte: „Nein, der gehört ins Meer. Dort fühlt sich der kleine Seestern viel wohler.“

      Sie trotteten weiter immer mit den Augen am Boden, um nach etwas Interessantem zu suchen. Der Wind, der immer noch deutlich spürbar wehte, ließ die Wellen an den Strand branden. Regelmäßig umspülte das Wasser ihre Füße, um anschließend wieder zurück ins Meer zu gleiten und den Blick auf den Sand freizugeben. Das Wasser war im Gegensatz zur Luft ganz warm. Wibke hob ein Stück Seetang auf und zeigte den Kindern, dass sich in den Blättern Gasblasen befanden, die dem Tang Auftrieb gaben. Sie drückte auf eine Blase, die mit einem kleinen Knall zerplatzte. Daraufhin probierten alle Kinder, auch eine Tangblase platzen zu lassen. Selbst Hans-Georg machte mit. Die Kinder waren allesamt begeistert. Sie schwatzten fröhlich miteinander und lachten. Dabei hielt Wibke keine wissenschaftlichen Vorträge, sondern vermittelte den Kindern nur das, was jemand von ganz alleine lernt, wenn er in dieser Gegend aufwächst.

      Kurz darauf bückte sich Wibke abermals und hob einen kleinen Kieselstein auf. In der Sonne glänzte der Stein honigfarben.

       Wibke sagte dazu: „Das ist ein Bernstein. Spürt mal, wie leicht der ist. Der fasst sich