Frank Springer

Philipps Entscheidung


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sich ein Junge darunter befand, mit dem er etwas unternehmen konnte. Am liebsten wäre er sofort noch im Schlafanzug auf den Gang gelaufen, um nachzusehen. Das fand er aber zu aufdringlich und er wollte nicht gleich zu Beginn unangenehm auffallen. Daher blieb er im Bett liegen und horchte auf die Stimmen, die nach kurzer Zeit wieder verstummten. Philipp konnte nicht einschlafen, da er ganz unruhig war. Er konnte es kaum ertragen, bis zum nächsten Morgen abwarten zu müssen. Philipp wollte unbedingt wissen, ob es noch einen gleichaltrigen Jungen in der Pension gab. Spontan fiel ihm der Junge mit den struppigen Haaren ein, der ihnen das Gepäck getragen hatte. Wenn dieser Junge der Sohn von Herrn Petersen war, dann müsste er hier im Haus wohnen. Ob er ihm wieder begegnen würde? Ob er mit ihm zusammen etwas Interessantes anstellen könnte? Diese Fragen quälten Philipp bis spät in die Nacht hinein. Irgendwann schlief Philipp doch noch ein.

      2. Noch mehr Enttäuschungen

      Als die Schneiders am nächsten Morgen den Speiseraum betraten, saß dort bereits eine Familie an einem der Tische und frühstückte. Schneiders grüßten freundlich und nahmen am Nachbartisch Platz. Ihr Tisch war bereits gedeckt. Speisen und Getränken holten sie sich von einem kleinen Buffet, das auf einer Anrichte liebevoll zurechtgemacht war. Herr Petersen kam kurz herein und wünschte seinen Gästen einen guten Morgen und guten Appetit.

      Von seinem Platz aus musterte Philipp die neu hinzugekommene Familie kritisch. Das war die erste große Enttäuschung an diesem Tag, denn ein Junge in etwa seinem Alter war nicht dabei. Neben den beiden Eltern gab es ein Mädchen, das etwas jünger war als er selbst, und einen kleinen Jungen in Mimmis Alter. An ihrem Dialekt konnte Philipp hören, dass die Familie irgendwo aus Süddeutschland stammen musste. Das Mädchen hatte lange, dunkle Locken, die ihr schmales Gesicht umrahmten. Ihre dunklen Augen leuchteten zwischen ihren Haaren hervor. Philipp fragte sich, wie es möglich sein konnte, dass so dunkle Augen so kräftig leuchten können. Das Mädchen trug ein kurzes Strandkleid mit einem fröhlichen Muster darauf und bunte Flipflops. Als sie sah, dass Philipp sie betrachtete, lächelte sie ihn freundlich an. Es war jedoch Philipp unangenehm, dass sie bemerkt hatte, wie er sie ansah. Daher lächelte er nur kurz zurück und wand schnell seinen Blick ab.

      Das war keinen Moment zu früh, denn nun betrat eine weitere Familie den Frühstücksraum und setzte sich an einen freien Tisch. Die Familie bestand nur aus drei Personen: Vater, Mutter und einem Sohn. Philipp konnte sein Glück kaum fassen, denn tatsächlich war dieser Junge in seinem Alter. Sofort fing Philipp an, sich auszumalen, was er alles mit diesem Jungen unternehmen wollte. Aber schon bald bemerkte Philipp, dass er sich zu früh gefreut hatte. Der Junge trug eine dicke Brille. Sein Haar war mit einem Scheitel sorgfältig zur Seite gekämmt. Er hatte lange Hose mit Bügelfalte und ein weißes Hemd mit Kragen an. Als Hausschuhe trug er ein Paar Filzpantoffeln. Philipp selbst hingegen hatte seine Shorts und Badelatschen angezogen. Unter der Shorts trug er schon seine Badehose, damit er gleich nach dem Frühstück an den Strand hinaus konnte.

      Dieser Junge aber benahm sich recht unbeholfen.

       Seine Mutter redete während des gesamten Frühstücks nahezu ununterbrochen mit spitzer Stimme auf ihn ein: „Iss langsam, Hans-Georg Schatzi, sonst verschluckst du dich. Puste deinen Tee, Hans-Georg, damit du dir den Mund nicht verbrennst. Hans-Georg, sitz bitte gerade. Nimm nicht so viel Butter, Schatzi.“

       Der Junge quittierte die Äußerungen seiner Mutter nur kurz mit: „Ja, Mama. Wie du meinst, Mama. Ist recht, Mama.“

       Sein Vater hingegen sprach in der ganzen Zeit kein einziges Wort. Philipp konnte zunächst den Dialekt von Mutter und Sohn nicht ganz einordnen, dann war er sich jedoch sicher, dass sie aus dem Rheinland kamen.

      Philipp war enttäuscht. Auf so ein Muttersöhnchen wie Hans-Georg konnte er verzichten. Mit dem konnte er sicherlich keine spannenden Abenteuer erleben. Inzwischen war Mimmi aufgesprungen und spielte mit dem kleinen Bruder von dem dunkelhaarigen Mädchen Fangen um die Tische herum. Vorher hatte Philipp schon gehört, dass der kleine Junge von seiner Schwester und seinen Eltern Lenni gerufen wurde. Philipp beneidete seine kleine Schwester darum, wie schnell sie Anschluss gefunden hatte.

      Nach dem Frühstück ging Familie Schneider an den Strand. Es war herrliches Badewetter. Philipp setzte sich etwas abseits auf sein Handtuch und begann damit, ein Buch zu lesen. Es war ein Abenteuerroman. Wenn er selbst schon keine Abenteuer erleben konnte, so wollte er doch zumindest davon lesen. Die Familie aus Süddeutschland hatte sich bereits am Strand niedergelassen. Sofort fing Mimmi zusammen mit Lenni an, eine Sandburg mit ihren Schaufelchen und Eimerchen zu bauen. Isabelle ging zu dem dunkelhaarigen Mädchen und sprach es an. Kurz darauf spielten die beiden miteinander Federball.

      Philipp ärgerte sich. Jeder hatte jemanden gefunden, mit dem er spielen konnte, nur er selbst ging leer aus. In den Ferienparadiesen, in denen sie sonst ihren Urlaub verbrachten, sorgten professionelle Animateure ständig dafür, dass es den Kindern und auch den Erwachsenen nie langweilig wurde. Dabei gab es abwechslungsreiche Angebote mit vielen spannenden Aktivitäten. Im letzten Jahr hatte Philipp sogar bei einem Tauchkurs mitgemacht. Aber hier an der Ostsee weitab der Zivilisation gab es nichts, nur Langeweile. Der große, öffentliche Badestrand war über einen Kilometer weit weg. Philipp sah dort viele Menschen. Es war ihm aber zu weit, um dorthin zu laufen in der Hoffnung, dort auf jemanden Interessantes zu treffen.

      Die Familie mit Hans-Georg kam an den Strand. Der Junge zog sich umständlich um. Unverzüglich begann seine Mutter damit, ihn dick mit Sonnencreme einzuschmieren. Wenn Philipp nicht länger alleine sein wollte, sondern zusammen mit einem anderen etwas unternehmen wollte, dann blieb ihm keine andere Wahl. Philipp legte sein Buch zur Seite, stand auf und ging auf Hans-Georg zu.

       Philipp fragte ihn: „Hallo, hast du Lust, mit mir schwimmen zu kommen?“

       Der Junge war sehr überrascht. Offenbar hatte er nicht erwartet, dass ihn jemand ansprach.

       Unsicher drehte er sich um und fragte: „Mama, darf ich?“

       Seine Mutter sagte: „Ja, Hans-Georg, aber pass auf, dass dein Haar nicht nass wird, sonst erkältest du dich. Und schwimm nicht so weit raus. Pass auf, dass du nicht so lange in der Prallsonne bist, Schatzi.“

       Hans-Georg antwortete: „Ja, Mama. Danke, Mama.“

       Dann stand er auf und trottete mit Philipp zum Wasser.

      Philipp lief sofort ins Meer. Als ihm das Wasser schon fast bis zur Hüfte reichte, drehte er sich um. Er sah, dass Hans-Georg ganz langsam und vorsichtig auf das Wasser zu ging.

       Er berührte gerade eben das Wasser mit seinen Zehenspitzen, als er schrie: „Au, ich bin auf einen Stein getreten.“

       Dann ging er zaghaft weiter und zeterte dabei: „Igitt, hier ist ja alles voller Seetang.“

       Als Hans-Georg bis zu den Knöcheln im Wasser stand, rief er hysterisch: „Hilfe, mich hat eine Qualle gebissen.“

       Ungeduldig rief ihm Philipp zu: „Nun komm doch! Ich denke, wir wollen schwimmen.“

       Hans-Georg entgegnete: „Nein, auf keinen Fall gehe ich in dieses Wasser. Hier wimmelt es nur so von gefährlichen Tieren.“

       Philipp verlor seine Geduld und bespritzte Hans-Georg mit Wasser.

       Das war zu viel für den ängstlichen Jungen.

       Er schrie: „Meine Brille ist nass geworden. Ich kann nichts mehr sehen.“

       Dann lief Hans-Georg zu seiner Mutter und klagte ihr sein Leid.

       Seine Mutter beruhigte ihn und sagte: „Aber das hat der Junge sicherlich nicht mit Absicht gemacht, Schatzi. Er wollte doch nur mit dir spielen.“

      Es reichte Philipp. Wieder stand er ganz alleine da und hatte niemanden, mit dem er sich beschäftigen konnte. Wütend schwamm er mit kraftvollen Zügen weit aufs Meer hinaus. Philipp war ein sehr guter Schwimmer. Früher hatte er sogar im Schwimmverein trainiert. Wegen der Schule blieb ihm aber keine Zeit mehr dafür. Nachdem er seine Wut abreagiert hatte, kehrte er um und schwamm ans Land zurück. Erschöpft ließ sich Philipp auf sein Handtuch fallen und von der Sonne trocknen.

      Er hatte schon eine Zeit lang vor sich hingedöst, als ihn plötzlich