Mimmi wollte wissen: „Ist der wertvoll?“
Wibke antwortete: „Na ja, ein bisschen schon.“
Nun fingen alle Kinder damit an, nach Bernstein zu suchen. Immer wieder brachten sie vermeintliche Funde zu Wibke und zeigten sie ihr. Es waren aber allesamt normale Strandkiesel. Nur Isabelle fand ein kleines Stückchen echten Bernstein, das nicht viel größer als eine Erbse war. Schließlich entdeckte Philipp einen Stein, der ebenfalls honigfarben in der Sonne leuchtete. Er reichte ihn zu Wibke. Die nahm ihn in die Hand und befühlte ihn.
Dann hielt sie ihn ins Licht und meinte: „Das ist eine Glasscherbe, die im Laufe der Zeit von den Wellen auf dem Sand ganz glatt geschliffen worden ist. Vermutlich stammt die von einer braunen Bierflasche. Die ist nichts wert. Manche Leute sammeln sie aber trotzdem, weil sie so schön aussehen.“
Wibke gab Philipp die Glasscherbe zurück.
Er wollte sie gerade wieder ins Wasser werfen, als Josephine ihn fragte: „Magst du sie mir geben, Philipp? Ich finde sie schön.“
Philipp gab ihr wortlos die Scherbe.
„Danke“, sagte das Mädchen und gab ihm hastig einen Kuss auf seine Wange.
Philipp sprang erschrocken einen Schritt zurück und schrie: „Lass das!“
Er rieb sich angeekelt seine Wange.
Josephine erwiderte empört: „Nun hab dich nicht so wegen so einem kleinen ‚Bussi‘. Es wird dich schon nicht gleich umbringen. Ich hab nur danke sagen wollen.“
Zu allem Überfluss fing Mimmi auch noch zu rufen: „Philipp ist verliebt. Philipp ist verliebt.“
Philipp holte nach Mimmi aus, traf sie aber nicht, da sie schon längst auf der Flucht vor ihrem Bruder war. Zwar hielt Philipp sich selbst für einen friedfertigen Menschen, der niemals gegenüber anderen Menschen gewalttätig wurde und schon gar keine Mädchen schlug, aber bei seinen Schwestern machte er in seiner Meinung nach begründeten Fällen schon mal eine Ausnahme.
Mimmi rannte im Kreis um die anderen Kinder herum und rief dabei immerzu: „Philipp ist verliebt. Philipp ist verliebt.“
Philipp war das Ganze überaus peinlich. Er verzichtete jedoch darauf, seine kleine Schwester zu verfolgen, da er nicht noch mehr Aufsehen in dieser für ihn unangenehmen Angelegenheit erregen wollte.
Glücklicherweise sorgte Hans-Georg in diesem Moment für Ablenkung.
Er schrie aus Leibeskräften: „Hilfe, ich ertrinke. So helft mir doch! Rettet mich!“
Als sich die Kinder nach ihm umdrehten, sahen sie, dass er im knöcheltiefen Wasser stand und voller Panik mit seinen Armen in der Luft ruderte. Zuerst wussten die anderen Kinder gar nicht, weshalb der Junge so außer sich war. Doch schließlich entdeckten sie, was Hans-Georg so in Aufregung versetzte. Er war einer etwas höheren Welle nicht rechtzeitig genug ausgewichen, so dass Wasser in einen seiner Gummistiefel geschwappt war. Er traute sich nun nicht mehr, sich zu bewegen, und schrie um Hilfe. Wibke ging zu ihm und ergriff seinen Arm. Dann zerrte sie ihn aus dem Wasser ins Trockene. Hans-Georg zog sein Bein nach und humpelte dabei, da er mit dem nassen Fuß nicht richtig gehen mochte.
Wibke zog ihm seinen Gummistiefel aus und kippte einen großen Schwall Wasser daraus auf den Sand. Anschließend zog sie ihm auch den nassen Socken aus und wrang ihn aus. Danach steckte sie den Socken in den Gummistiefel und drückte Hans-Georg beides zusammen in die Hand.
Dazu sagte sie: „Am besten ziehst du den anderen auch noch aus, damit du besser gehen kannst.“
Hans-Georg protestierte: „Aber dann beißen mich doch die wilden Tiere. Kein Stück gehe ich ohne Stiefel.“
Wibke ließ sich nicht beeindrucken: „Mach, wie du willst.“
Widerstrebend zog Hans-Georg nun auch seinen anderen Stiefel und Socken aus und krempelte seine lange Hose hoch. Er folgte mit seinen Gummistiefeln in der Hand den anderen Kindern. Dabei schrie er öfters kurz auf, wenn er auf ein Steinchen trat.
Wibke zeigten den Kindern noch einige weitere interessante Dinge. Obwohl sie keine ausgebildete Animateurin war, schaffte sie es mit ihrer ansprechenden Art, alle Kinder in ihren Bann zu ziehen. Selbst Philipp vergaß für einige Zeit, Trübsal zu blasen. Er bemerkte, dass Josephine mehrmals seine Nähe suchte, während er sich bemühte, ihr aus dem Weg zu gehen. Es war bereits kurz vor Mittag, als die Kinder in die Pension zurückkehrten. Aufgeregt zeigten sie ihren Eltern ihre Funde und berichteten ausführlich über ihre Entdeckungen. Hans-Georg ließ sich wegen seiner nassen Füße von seiner Mutter trösten.
Am Nachmittag hatte es die Sonne endlich geschafft, die Luft zu erwärmen. Der Wind hatte sich weiterhin abgeschwächt, so dass nur noch ein leichtes Lüftchen wehte. Die Gäste gingen wieder an den Strand. Philipp legte sich auf sein Badehandtuch und las weiter in seinem Abenteuerroman. Er war froh, dass sich seine Schwester Isabelle und Josephine irgendwie miteinander beschäftigten. So kam er immerhin in Ruhe zum Lesen.
Er hatte gerade ein Kapitel beendet und blickte von den Seiten auf, als er sah, dass Wibke vom Haus her in Richtung auf das Wasser lief. Sie trug einen einteiligen Badeanzug, wie ihn Sportlerinnen tragen. Nun konnte Philipp sehr viel besser erkennen, dass sie tatsächlich ein Mädchen war. Ihr weiter Pullover hatte das bisher vollständig verborgen.
Als sie an ihm vorbeilief, rief er ihr zu: „Hallo Wibke, willst du schwimmen?“
Sie stoppte kurz und antwortete: „Ja klar, wonach sieht es denn sonst aus?“
Philipp fragte: „Darf ich mitkommen?“
Wibke erwiderte: „Selbstverständlich gerne, aber ich plansche nicht nur herum, sondern möchte eine richtige Strecke schwimmen.“
Philipp gab zurück: „Okay, ich auch. Ich bin dabei.“
Blitzschnell sprang er auf und lief hinter Wibke ins Wasser.
Sie schwammen beide mit kraftvollen Zügen weit aufs Meer hinaus. Erst als das Land kaum noch zu sehen war, hielten sie an.
Wibke sagte anerkennend: „Du bist ein guter Schwimmer, Philipp.“
Philipp antwortete stolz: „Ich habe früher im Verein trainiert. Du bist aber auch nicht schlecht, Wibke.“
Wibke lachte und sagte: „Dann wollen wir mal sehen, wer besser ist. Wer zuerst wieder an Land ist!“
„Einverstanden“, rief Philipp, „na, dann los!“
Sie schwammen, so schnell sie konnten, wieder zurück zum Land. Dabei lagen sie nahezu gleichauf. Fast gleichzeitig erreichten sie den Strand, so dass keiner entscheiden konnte, wer von beiden Schwimmern zuerst angekommen war. Sie einigten sich auf ein Unentschieden.
Die beiden mussten zuerst tief durchatmen.
Dann sagte Wibke erschöpft: „Das tat gut. Es hat mir Spaß gemacht, mit dir zu schwimmen. Jetzt muss ich aber wieder ins Haus, meinem Vater helfen.“
Philipp fragte: „Du arbeitest die gesamten Ferien in der Pension deines Vaters? Verreist ihr gar nicht? Unternimmst du auch nichts anderes?“
Wibke lächelte und antwortete: „Es macht mir Spaß. Für mich ist es Abwechselung genug, wenn ich hier mit unseren Gästen etwas unternehmen kann. Mehr brauche ich nicht. Außerdem kann ich auf diese Weise mein ohnehin viel zu knappes Taschengeld etwas aufbessern. Während der Ferienzeit schafft es mein Vater nicht, alleine die Pension zu bewirtschaften. Eine Hilfskraft können wir uns nicht leisten. Daher ist er ganz froh, wenn ich ihm helfe.“
Philipp hatte in seinen Leben bisher noch nicht gearbeitet. Er hatte auch nie die Notwendigkeit dazu gesehen, da ihm seine Eltern immer ausreichend Taschengeld gaben und auch sonst versorgten. Nun sah er aber ein, dass dies keinesfalls selbstverständlich war.
Philipp sagte nachdenklich: „Das kann ich verstehen.“
Wibke fuhr fort: „Später werde ich vielleicht Touristik studieren. Dabei kann ich die praktischen Erfahrungen sicherlich gut gebrauchen, die ich hier sammeln kann. Bis dahin ist aber noch etwas Zeit.“