Josefine Gottwald

Die Krieger des Horns - Blutmond


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ihre peitschenden Zweige zurück.

      „Weiter!“, rufe ich und schicke die Mädchen voraus.

      Sie gehen nur zögernd, als misstrauten sie dem Frieden, und ich schiebe sie beinahe vor mir her.

      Auf der nächsten Lichtung kann ich die Spitze des Kirchturms ausmachen; wir nähern uns quälend langsam.

      „Ihr müsst schneller laufen!“, befehle ich. „Hört ihr sie nicht?“

      Ihre Lippen zittern. Natürlich hören sie sie. Das Heulen in der Ferne, das aus allen Richtungen beantwortet wird.

      Hada an meiner Hand murmelt abwesend: „Sie sind da.“

      „Los doch!“, schreie ich verzweifelt und zerre an ihren Armen. Unsere Beine fliegen beinahe, als ich endlich die Mauer erkenne. Von Ranken umschlungen wächst sie in den Himmel empor. Meine Nägel brechen an dem harten Gestein, ich zerre an den Pflanzen, aber sie geben nach und reißen. Die Mädchen sind wie gelähmt.

      „Das schaffen wir nicht!“, entscheide ich. „Wir müssen zum Tor!“

      Ein tiefes Grollen trifft mich bis ins Mark. Aus dem Dickicht dringt ein Knurren, nur wenige Schritte entfernt. Die Mädchen stehen da wie versteinert. Ich blicke an der Mauer entlang. Es ist zu weit!

      Wir rennen um unser Leben. Aus meinem Mantel werfe ich roten Staub auf den Weg hinter uns, der letzte Rest, den ich besitze. Ich bete, dass der Wolf nicht darüber hinwegsetzt, aber als er den Waldboden berührt, heult er gequält auf. Ich sehe fast vor mir, wie sich seine Pfoten verdrehen, sobald sie den Staub berühren, wie seine Gliedmaßen brechen.

      Hada atmet im Laufen auf; sie hat es auch gehört.

      Aber Lucia ergreift meine Hand fester. „Das Tor ist aus Eisen!“, erinnert sie mich. „Was tun wir, wenn es verschlossen ist?“

      „Wir müssen es riskieren!“, entscheide ich. „Es ist unsere einzige Chance.“

      Hinter uns höre ich den Wolf winseln und nach seinem Rudel rufen. Ich wage einen Blick zurück. Panisch treibe ich die Mädchen noch stärker an.

      „Was hast du gesehen?“, fragt Hada. Ich antworte ihr nicht. Das Entsetzen verschlägt mir die Sprache. Wenn ich es ihnen sage, werden sie aufgeben.

      Endlich endet die Mauer. Das Tor ist ebenso hoch, aber einen Spalt weit steht es offen. Es könnte gerade reichen; mein Herz macht einen Sprung. Aber ich muss mich konzentrieren.

      „Hände an den Körper!“, ermahne ich.

      Hada geht voran. Lucia bückt sich nach einem Stock.

      „Was tust du?“ Meine Stimme überschlägt sich beinahe. Hastig schiebe ich sie durch die Öffnung. Blitzschnell dreht sie sich herum und mit dem Stock zieht sie das Tor zu sich heran. Nur ein Stein liegt jetzt noch dazwischen und hindert sie, es vor mir zuzuschlagen. Hada hat ihn dort platziert.

      Schockiert starre ich die beiden an. Ich begreife nur langsam, viel zu enttäuscht bin ich von ihrem Verrat.

      Ihre Minen sind hart, aber ihre Augen blitzen.

      „Du bist hartnäckig, Sophy, das kann man nicht abstreiten!“, sagt Lucia und umklammert den Stock wie im Krampf. Mit der anderen Hand tastet sie nach ihrer Schwester.

      „Wir haben alles versucht, um dich aufzuhalten“, erklärt Hada leise. „Aber nun muss es eben so sein.“

      Ich bin noch immer viel zu verstört, um zu antworten. Beinahe mitfühlend fährt sie fort: „Du musst nicht sterben, Sophy.“ Wie beiläufig wandert ihr Blick in den Wald hinter mir.

      Ich wirbele herum und schaue zurück. Sie haben uns eingeholt. Nein, mich haben sie eingeholt. Es müssen mehr als zwei Dutzend sein. Überall in der Schwärze glühen ihre Augen. Jetzt heulen sie nicht mehr, sie knurren voller Vorfreude und Gier nach meinem Fleisch.

      Ohne zu überlegen schleudere ich den Mädchen einen Zauber entgegen, der sie zu Boden werfen soll. Die Enttäuschung und die Panik in mir sind so stark, dass ich ihnen wahrscheinlich das Rückgrat breche, aber das nehme ich in Kauf.

      Hada schiebt einen Arm vor ihre Schwester und fängt meine Worte ab, bevor ich zu Ende spreche. Mit gekrümmten Fingern wirft sie mir meinen eigenen Hass entgegen; ihr Gesicht ist finster und kalt.

      Mein Mund steht offen vor Erstaunen. Erst im letzten Moment kann ich ausweichen, als mich der Schlag ihrer Magie trifft. „Das ist nicht möglich ...“, flüstere ich. Aber dann kehrt meine Wut zurück. Ich mache einen drohenden Schritt auf die beiden zu, auch wenn uns das Tor noch immer trennt. „Was wollt ihr?“, fahre ich die Mädchen an.

      Lucia lächelt und kostet den Moment aus. „So ist es richtig, vertragen wir uns noch einen Moment! Vielleicht könnten wir ja das Tor für dich öffnen, wenn du uns eine nützliche Information gibst. Und wenn sie nicht so nützlich ist, nun dann musst du wohl auf deinen kleinen Silberdolch vertrauen ...“

      Das Knurren hinter mir raubt meine Konzentration. Schnell wende ich mich um, aber ich bereue es im selben Moment. „Was wollt ihr?“, brülle ich panisch. Ich versuche, meine Kräfte zu sammeln, aber es sind zu viele. Zu viele.

      „Sag uns, wer das Licht von Traketa besitzt!“, verlangt Lucia, zu wissen.

      Fassungslos starre ich sie an. „Das Licht? Ihr wollt das Licht? Aber ich zeige euch, wer es hat! Wir rächen uns an ihrem Mörder und holen es uns gemeinsam!“

      Lucia schnaubt verächtlich. „Sag uns, wer es hat, oder du stirbst!“

      Wut brodelt in meinem Inneren. Meine Hände ballen sich zu Fäusten. „Ihr glaubt, dass ihr gegen mich ankommt? Ich kann das Tor aufwerfen, wenn ich es will und dann werdet ihr mich um Gnade anflehen!“

      „Dann tu es“, sagt Hada ungerührt. „Das Eisen schwächt dich, du kannst es nicht öffnen, solange wir es geschlossen halten.“

      Ich beiße vor Ärger die Zähne zusammen. Ich begreife nicht, was sie planen, aber ich versuche, es zu verbergen. Fieberhaft überlege ich, wie ich sie überlisten kann.

      Langsam schleichen die Wölfe näher. Einer von ihnen ist nur einen Sprung entfernt und leckt sich die Lefzen vor Verlangen. Seine Augen sind voll Wahnsinn und ich spüre, dass sie alle in einen Rausch verfallen, sobald sie das erste Blut riechen.

      „Das Licht, Sophy!“, erinnert mich Hada. Sie war immer die Ruhigere von beiden, denke ich fast schon melancholisch. Ich habe sie fast aufgezogen, als ob sie meine Kinder wären. Und dann habe ich ihnen einmal zu oft vertraut ...

      Aus der Dunkelheit nähern sich Schritte. Die schwarzen Kreaturen weichen zurück, als eine Gestalt an ihren Reihen vorüberwandert. Ihr Gang ist fest, aber von arroganter Gelassenheit. Um die Stiefel spielt ein Mantel, den man schon seit Jahrhunderten nicht mehr trägt.

      Damit haben die Mädchen nicht gerechnet, hoffe ich – eine Karte, die ich zu meinen Gunsten spielen muss. Unauffällig gleiten meine Hände in die Taschen.

      „Hier also verstecken sich die Hexen“, sagt der Vampir ruhig. „Guten Abend, meine Damen.“

      Die Mädchen zeigen ihm die Zähne und fauchen, als ob sie wilde Katzen wären.

      „Aber wer wird denn gleich unfreundlich werden?“, lacht der Vampir. „Es läuft doch alles perfekt.“

      Unsicher blicke ich zurück zu den Hexen. Lucia erhebt das Wort, das sadistische Lächeln wieder auf ihren Lippen, nur eine Spur aufgeregter. Auch sie haben Angst.

      „Unsere Abmachung gilt, Crain“, erklärt sie. „Ihr bekommt sie, wenn sie nicht mit uns spricht.“ Sie macht eine lange Pause, in der der Vampir ihren Gedanken fortführt: „Und tut sie es doch, dann bekommen wir euch alle.“ Die Mädchen beißen die Zähne aufeinander, aber sie widersprechen nicht.

      „Was?“ Schockiert blicke ich in ihre Augen. „Was soll das? Und wem soll das helfen?“ Fieberhaft denke ich nach. Was kann sie zu so einem Pakt hinreißen? Verzweiflung? Aber waren sie nicht immer sicher bei mir?