Le Mula darüber steht. Das Gebäude hat ungefähr vier Stöcke und gleicht ein wenig dem Lincoln Center in New York. Ich liebe es, dass es in so einem altmodischen Stil gehalten ist, das gibt dem Ambiente einen gemütlichen Charme.
"Wow, das ist riesig", staunt Aiden, als wir unter dem steinigen Vordach hindurch laufen, vorbei an zwei großen Statuen, die Engel darstellen sollen, sie zeigen beide auf den Eingang.
"Ich weiß", lächele ich und öffne für ihn die große Glastür, die in die Eingangshalle führt.
"Merci jolie", sagt er, verbeugt sich vor mir und geht durch die Tür.
Ich lache. "Du kannst französisch?"
"Ich hatte es in der High School, aber ich habe so gut wie fast alles verlernt." Er lässt seinen Blick durch die riesige Eingangshalle gleiten, dessen Wände komplett aus Stein bestehen.
Mich hat das alles immer an ein Schloss erinnert. An manchen Ecken stehen Statuen und oben an der Decke sind unendlich viele Muster eingraviert, genau wie an manchen Wänden. Es ist einfach traumhaft.
Aiden scheint es auch zu gefallen, denn er kann seine Augen gar nicht mehr von den Wänden und der Decke lassen.
"Und, ist es besser als ein Bordell?", frage ich ihn und stumpe ihn leicht mit meinem Ellenbogen in die Rippen.
Er wacht aus seiner Trance auf, blickt aber immer noch an die Decke. "Das hoffe ich doch."
Ich schmunzele. "Komm, wir müssen noch Eintrittskarten kaufen", lasse ich ihn wissen und gehe auf den Ticketstand zu.
"Eintrittskarten?", fragt Aiden, als er mir folgt. "Ist das eine Veranstaltung?"
"So ähnlich."
"Aber hier ist doch überhaupt niemand."
Wir kommen beim Ticketstand an und ich lächele der Verkäuferin nett zu, als ich ihr fünf Pfund auf den Tresen lege. "Wir sind eine halbe Stunde zu früh da", sage ich zu Aiden als sie mir zwei Tickets gibt.
"Hätte ich nicht eigentlich bezahlen sollen? Ich bin der Mann", meint Aiden, als ich ihm ein Ticket in die Hand drücke.
Ich gehe auf eine große Steintreppe zu, die mit einem roten Teppich bedeckt ist. "Nur weil du reich bist, heißt das nicht, dass du alles bezahlen darfst", necke ich ihn.
Wir gehen die Treppe hoch.
"Ich werde diesen Spruch jetzt ignorieren und mich wieder auf diese einzigartige Atmosphäre konzentrieren", sagt Aiden und lässt seinen Blick wieder durch das große Gebäude gleiten.
Ich kichere leise und wir kommen an einer Art Tor an, wo ein Mann in einem weißen Anzug steht, mit weißen Handschuhen.
Er nickt uns freundlich zu. "Bonjour, die Dame und der Herr", sagt er mit einem französischen Akzent.
Ich lächele ihm zu und halte ihm die Tickets hin. "Bonjour monsieur gentil."
Er lächelt zurück und nimmt mir die Tickets ab: "Viel Vergnügen."
Als Aiden und ich durch das Tor gehen, sieht er mich mit erhobenen Brauen an. "Du kannst französisch?"
Ich zucke selbstgefällig mit den Schultern. "Ich hatte es in der High School, habe aber so gut wie fast alles verlernt", zitiere ich seine Worte von eben.
"Touché."
Wir laufen durch einen abgedunkelten Gang, der ebenfalls nur aus Steinen besteht, zu einer großen Metalltür.
"Das ist ja richtig aufregend", meint Aiden belustigt, als wir an der Tür ankommen.
Wir bleiben davor stehen.
Ich sehe zu ihm auf und lächele. "Jetzt wirst du sehen, was mir in an meiner Heimat am meisten den Atem geraubt hat."
Er öffnet die große Tür und lässt sie hinter uns ins Schloss fallen.
Er sieht schweigend geradeaus, seine Augen sind riesig.
Aiden
Ich muss mir mehrmals über die Augen reiben, um auch wirklich zu kapieren, was ich hier gerade vor mir sehe. Bücher, überall Regale mit Büchern. Sprachlos trete ich einen Schritt nach vorne, um über den Rand des Balkons sehen zu können auf dem wir stehen. Es bietet sich mir eine Unendlichkeit von Büchern. Zwischen den Regalen ist ein Durchgang, auf dem Tische platziert sind.
Das ist sie also, Ravens Welt. Sie ist beeindruckend, mehr als ich sie mir je hätte vorstellen können. Ich kann mir schon genau ein Bild davon machen, wie Raven da unten an einem Tisch sitzt und durch die vielen Bücher stöbert.
"Was sagst du?", fragt Raven, die wieder neben mir auftaucht und mit mir geradeaus sieht.
"Es ist -“, ich muss kurz meinen Kopf schütteln, um wieder klar denken zu können. "Es ist Wahnsinn! Ich meine, sieh dich um!" Ich halte mir staunend die Hände an den Kopf. "Das sind ja abartig viele Bücher!"
Raven kichert. "Ich wusste, dass es dir gefallen wird."
"Mir gefallen ist gar kein Ausdruck!"
"Komm", sagt sie lächelnd und geht nach links, ein paar Treppen vom Balkon hinunter zu den vielen Regalen.
Ich folge ihr, mit dem Blick immer noch auf diese wahnsinnige Aussicht, die sich uns bietet.
"Das hier ist keine normale Bibliothek", erzählt Raven, als wir zwischen zwei Regalen hindurch laufen. Sie lässt ihren Finger an den Büchern streifen.
Ich höre ihr aufmerksam zu.
"Es gibt sie schon seit mehreren hundert Jahren. Ich glaube, sie wurde 1438 gebaut, oder 1439, ich bin mir nicht mehr sicher, aber das Einzigartige hieran ist, dass alle diese Bücher", sie macht eine allumfassende Geste, "zu neunzig Prozent aus selbstgeschrieben Gedichten, Poesie und anderer Literatur bestehen."
Wir laufen langsam weiter durch die Regale.
"Man findet hier wirklich sehr selten eine richtige Geschichte", erzählt Raven weiter. "Jede Woche findet hier eine Veranstaltung statt, in der Menschen sich versammeln um ihre eigenen Werke vortragen. Deshalb mussten wir die Karten kaufen. Man kann selbst etwas vortragen oder auch einfach nur zuhören. Aber das, was die meisten anspornt hier ihre Gefühle zu veröffentlichen ist, dass jedes Gedicht, jede Poesie, jeder kleinste Spruch, der hier vorgetragen wird, in ein Buch eingetragen wird. So ist das schon seit dem Mittelalter. Alle die Bücher hier enthalten die Gedanken der Menschen von früher, die ihre Lyrik hier geschrieben haben und das ist eine Tradition, die es bis heute gibt."
"Und das wird heute auch passieren?", frage ich sie.
Sie nickt lächelnd. "Ja, deswegen sind wir extra früher gekommen, ich wollte dir die Bibliothek unbedingt zeigen."
"Das war eine gute Idee", lächele ich und verfolge mit meinem Blick die unendlichen Bücher an denen wir langsam vorbeigehen. "Das hast du früher gemacht? Mit Leuten Poesie ausgetauscht?"
"Ja", meint sie. "Ich habe die Mula entdeckt, als ich zwölf war. Ich weiß noch, dass ich an dem Tag total schlechte Laune hatte, weil meine Mutter meinem Vater einen weiteren Job versaut hat und wir wieder kaum Geld hatten. Ich war so stur und genervt von alldem, dass ich einfach abgehauen bin und mit dem Zug nach Amersham gefahren bin. Mein Dad hat sich höllische Sorgen gemacht." Sie lacht leicht, in Erinnerungen schwelgend. "Es hat geregnet und das Gebäude war das einzige in der Nähe, das auf hatte, damit ich mich irgendwo hinein setzen konnte. Und als ich dann die Bibliothek betreten habe, war irgendwie alles anders. Es klingt bescheuert... Aber ich habe hier schon so viele Bücher gelesen, die voll mit den Gedanken und Problemen der Menschen der letzten Jahrhunderte sind und irgendwie haben sie mich jedes Mal aufmuntern können. Sie haben mir auf eine Art und Weise gezeigt, dass es Leute gab, die sich manchmal genauso gefühlt haben wie ich, nur halt unter anderen Umständen und das hat mich immer wieder hier her gezogen."
Bei der Vorstellung, wie eine jüngere, einsamere Raven sich hier in den Büchern dieser Bibliothek verliert, weil sie traurig ist und Aufmunterung braucht, dreht sich mir der Magen um.