Ute Christoph

Im Land der drei Zypressen


Скачать книгу

mich kannten und freundlich grüßten und die Nachbarn wussten, dass mein Mann und ich uns getrennt hatten, verschwand das Gefühl, versagt zu haben. Das Zusammenleben mit Tim hatte nicht mehr funktioniert. Warum hätte ich künstlich etwas aufrechterhalten sollen, was es doch tatsächlich gar nicht mehr gab?

      Aber dann waren das Selbstmitleid und diese quälenden Fragen gekommen: Warum hatte das ausgerechnet mir passieren müssen? Warum hatte ich nicht, wie so viele Menschen um mich herum, das Glück, den richtigen Mann zu finden, zu heiraten, ein gemütliches Nest zu bauen und eine eigene Familie zu gründen? Warum? Warum? Warum?

      Aber ich kannte die Antworten. Ich kannte sie seit dem einsamen Tag am Strand vor einem halben Jahr.

      Ich schluckte schwer.

      Ich will hier raus!

      Der Gedanke tat gut. Einfach alles stehen und liegen lassen, einfach alles hinter mir lassen.

      Weg! Raus!

      Und wieso nicht?

      Der Zeitpunkt war perfekt. Ich verfügte noch über meinen gesamten Jahresurlaub, und die Redaktion war vollständig besetzt, kein einziger Kollege, der krank oder im Urlaub war. Gleich Morgen könnte ich mit meinem Chefredakteur sprechen und bereits übermorgen den ersten freien Tag genießen. Die Suche nach einem neuen Job konnte zwei Wochen warten.

      Weg! Raus!

      Und wohin?

      Schon immer hatte ich davon geträumt, mit dem Auto Südfrankreich zu erkunden. Ich würde mich einfach in meinen kleinen Golf setzen und Richtung Süden fahren.

      Eine Unterkunft? Ach, die würde sich finden.

      Ich drückte die halb aufgerauchte Zigarette aus, trank den letzten Schluck laufwarmen Kaffee und ging zurück in die Wohnung. Nachdem ich meine Mutter und Anne und Markus, meine Freunde aus Kindertagen, telefonisch über meine spontanen Pläne unterrichtet hatte, und mit einem plötzlichen Energieschub zu packen anfing, schweiften meine Gedanken wieder in die Vergangenheit.

      Tim und Elke – wir waren für alle immer das Traumpaar gewesen. Wir hatten uns gegenseitig durch das Studium geholfen, nur hundert Kilometer von unserer Heimat entfernt Arbeit gefunden, uns gemütlich eingerichtet und waren für unsere Familien und Freunde immer die perfekten Gastgeber gewesen. Aber wir hatten auch niemand wirklich einen Blick hinter die Kulissen werfen lassen. Selbst letztes Jahr nicht, als ich plötzlich schwanger geworden war…

       Olargues, 2. Mai 1997

      Ich lenkte den Wagen geschickt über die kurvige Landstraße. In einer kleinen Straßenbucht parkte ich den Golf, stieg aus, lehnte mich gegen das Auto und betrachtete mit verschränkten Armen die bezaubernde Landschaft.

      Ein kurzer starker Regenschauer hatte den Staub aus der Luft gewaschen, und nun brannte die Sonne wieder heiß und erbarmungslos auf die südfranzösische Landschaft. In der aufsteigenden Feuchtigkeit mischten sich die Düfte der Umgebung. Der würzige Geruch alter Bäume vermengte sich mit dem Duft des klaren Wassers aus dem Fluss neben der Landstraße, während unzählige bunte Blumen eine milde Süße ausströmten. Ich sog den atemberaubenden Duft gierig ein.

      Das Licht war nach dem Regen besonders intensiv. Die glänzenden Blätter der immergrünen Montpelliereichen reflektierten die Sonne, jedes anders, sodass die Baumkronen in den unterschiedlichsten Grüntönen schimmerten. Ihr Wuchs war bizarr und bildete mit den schroffen Felsen der Gegend eine wildromantische Einheit.

      Ich rieb meine Oberarme und genoss die Berührung der sonnengewärmten Haut. Alles war perfekt. So musste das Paradies sein.

      Was ich sah und atmete, stand in krassem Gegensatz zu den Eindrücken, die ich tagsüber in St. Pons gesammelt hatte. In den engen Gassen blätterte die vor Jahrzehnten aufgepinselte Farbe von alten Häusern und hinterließ faustgroße graue Flecken. Bunte Neonbuchstaben über Ladeneingängen, deren Türen sich noch mit einer Klinke öffnen ließen, bildeten einen fast morbiden Kontrast zu vergilbten Werbeschildern aus Emaille. Küchengerüche waberten aus den Wohnungen über den Geschäften. Ganz schwach nahm ich dazwischen den Duft frisch gewaschener Wäsche wahr, die auf roten Plastikleinen zwischen schmiedeeisernen Balkongittern quer über die Straßen gespannt trocknete.

      Während ich über den Markt bummelte, hörte ich den lautstark feilschenden Händlern und Kunden zu, ohne ein Wort zu verstehen, lauschte dem sanften Klang der französischen Sprache und bestaunte das breite Angebot: Zwischen ausladenden Ständen mit bunter Kleidung und noch bunteren Schuhen, mit eingelegten Oliven und Tapenade, zahllosen Brot- oder Fischsorten gab es kleinere Stände mit Obst und Gemüse, Eiern und Käse oder Gewürzen.

      Jetzt zog der lichtverwöhnte Horizont meinen Blick an. Ein Regenbogen wuchs aus der Spitze des höchsten Berges, ließ die Welt weit unter sich und schwang sich elegant in ein Tal hinter den Bergen. Seine Farben waren wie aus einem Kindermalkasten, so kraftvoll, dass der absteigende Teil des Bogens sich in der feuchten Luft spiegelte. Der Regenbogen schien auf ewig in den Himmel gemeißelt.

      Ich seufzte tief, wandte mich ab und kletterte zurück in mein Auto. Ein wenig melancholisch beschloss ich vor meiner Rückkehr in mein Feriendomizil in den Gorges zu baden.

      Während ich das Auto durch die Kurven manövrierte, zog der Regenbogen meinen Blick immer wieder magisch an.

      Auf dem provisorisch wirkenden Parkplatz standen nur noch zwei französische Kleinwagen und ein schmutziges Wohnmobil. Ich nahm meine Tasche mit den Badesachen aus dem Kofferraum und begab mich auf den Weg zu dem steilen, ausgetretenen Pfad, der in die Schluchten führte.

      Zehn Minuten später erreichte ich die natürlichen Steinbassins, in denen das klare Bergquellwasser in der gleißenden Nachmittagssonne silbern glitzerte. An einer Stelle mit großen, glatten Felsen zog ich Sandalen, Shorts und T-Shirt aus und ließ mich nackt in das eisige Wasser gleiten. Mein Herz raste, mein Atem stockte. Die Kälte betäubte den inneren Schmerz, der mich nach Frankreich begleitet hatte und noch immer wie ein Blutegel an meiner Seele saugte. Frierend und nach Luft schnappend tauchte ich auf, kletterte aus dem Bassin und legte mich lang ausgestreckt auf den glatten, sonnengewärmten Fels. Das glucksende Wasser und ein sanfter Wind, der leise in den Baumkronen säuselte, beruhigten meinen Herzschlag. Ich schloss die Augen und fiel in einen leichten Schlaf.

      Als ich wieder erwachte, wurde es kühl und die Abenddämmerung setzte ein. In die langsam hinter den Bergen versinkende Sonne blinzelnd, beeilte ich mich, meine Kleidung überzustreifen und zum Auto zurückzulaufen.

      Von der kurvigen Landstraße, die die Siedlungen in den Tälern verband, wand sich ein asphaltierter Weg in das Bergdorf, in dem ich auf dem Hof eines reizenden älteren Ehepaars ein Zimmer bezogen hatte.

      Das Gehöft lag ein Stück unterhalb des Dorfes und bestand aus einem kleinen zweistöckigen Haupt- sowie zwei dazu im rechten Winkel gebauten Nebengebäuden. Im Erdgeschoss des Haupthauses befanden sich die gemütliche Wohnküche und zwei Zimmer, in der ersten Etage weitere, von Angele und Andre genutzte Räume. Im linken Nebengebäude waren eine kleine Käserei und der Stall für die Tiere untergebracht. Ein weiterer Stall rechts neben dem Haupthaus war umgebaut worden und beherbergte nun drei hübsche Zimmer für Touristen und einen winzigen Speiseraum. In dem offenen Karree von Haupt- und Nebengebäuden lag der Garten mit gepflegten Beeten, in denen Gemüse und Kräuter wuchsen. Bunte Wiesen begrenzten das Grundstück zu beiden Seiten.

      Als ich um die letzte Kurve auf die alte Hofstatt aus Bruchstein zufuhr, winkte mir meine Gastgeberin Angele lächelnd zu. Sie pflückte dicke Tomaten von den prächtig wachsenden Stauden.

      „Sie kommen genau zur richtigen Zeit. Das Essen ist in einer halben Stunde fertig“, sagte sie mit dem typisch südfranzösischen Akzent, der weder Nasallaute noch das vornehm im Rachenraum geformte „r“ kennt.

      Ich duschte ausgiebig, trocknete mich ab und schlüpfte in eine bequeme Stoffhose und einen leichten Baumwollpulli. Erst als der Duft des Abendessens aus der Wohnküche durch das offene Fenster in mein Zimmer strömte, stellte ich fest, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr zu mir genommen hatte und hungrig war. Je näher