Ute Christoph

Im Land der drei Zypressen


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immer gegangen war, hatte er ihr Geld gegeben und gesagt: „Das reicht fürs Erste. In der Stadt bist Du weit genug von hier entfernt. Niemand wird Dich dort suchen.“

      In ihrer Fantasie sah sie sich als Kindermädchen. Doch es wäre nicht einfach, ohne Referenzen eine passende Anstellung zu bekommen. Würden die Menschen nicht rasch bemerken, dass sie bar jeder Erfahrung war? War es möglich, sich darauf zu verlassen, mit ihrer eigenen guten Erziehung die Aufgaben eines Kindermädchens zu meistern? Sie hatte Angst, aber jedes Los schien ihr erträglicher, als ihr ganzes Leben an einen Mann gebunden zu sein, den sie nicht achten, geschweige denn lieben konnte.

      „Ich besuche die Schwester meiner Mutter. Sie lebt mit ihrer Familie in der Stadt“, log Vivienne mit fester Stimme. „Meine Tante kommt bald mit dem vierten Kind nieder und benötigt dringend Hilfe.“

      „Wie reizend von Euch“, bemerkte die dicke Frau. Die Kutsche fuhr durch ein tiefes Schlagloch, und sie stieß unsanft gegen ihren Mann. Das Kind auf seinem Schoß verzog die Mundwinkel.

      „Nein, nicht weinen“, beschwichtigte es der Vater.

      Der Mann neben Vivienne gab leise Schnarchgeräusche von sich.

      Die junge Frau gähnte abermals und rieb sich die großen dunkelbraunen Augen. Die Kopfhaut unter ihrer Haube kribbelte unangenehm. Zu Hause hätte sie schon lange Zeit in ihrem weichen Bett gelegen, die Ruhe der Nacht in ihrem schützenden Elternhaus genossen und sich in dieser Geborgenheit Schlaf und Träumen hingegeben. Vivienne atmete tief ein und seufzte.

      Diese Zeiten sind vorbei, dachte sie traurig. Das alles gibt es nun für mich nicht mehr. Keine Eltern, nicht die Gesellschaft der Brüder und Schwestern, auch nicht die der geliebten Freundinnen. Das alles habe ich vor drei Tagen für immer hinter mir gelassen. Ich muss nach vorn schauen.

      „Hee, Kutscher, anhalten!“

      Vivienne schrak zusammen. Das kleine Mädchen begann zu weinen.

      Der Mann neben ihr schien plötzlich hellwach.

      „Sorg dafür, dass das Balg still ist, sonst erledige ich das“, fuhr er den Vater an.

      Der Vater stammelte ein beruhigendes „Tsch, tsch“. Auf seiner Stirn bildeten sich zahlreiche kleine Schweißperlen. Seine Frau schnappte aufgeregt nach Luft. Die Knöchel ihrer ineinander verschränkten Hände traten weiß hervor.

      Bedächtig drehte Vivienne den Kopf zu dem Mann neben sich. Er hielt eine Pistole auf das Kind gerichtet und beobachtete aufmerksam die Reaktionen seiner Geiseln. Die Kutsche kam zum Stehen, die Tür wurde aufgerissen. Ein dreckfleckiges Gesicht und eine schmutzige Hand mit einem Dolch schoben sich in Viviennes Blickfeld. Sie spürte, wie ihr Magen krampfte, und kämpfte gegen das aufkommende Gefühl, sich übergeben zu müssen.

      „Los, steigt aus!“ befahl eine Stimme außerhalb des Gefährts.

      Vivienne setzte ihre Füße vorsichtig voreinander und verließ die Kutsche. Die Familie folgte ihr, während der Mann, der die ganze Zeit vorgegeben hatte zu schlafen, die Pistole von hinten auf sie gerichtet hielt. Verstohlen wanderte Viviennes Blick zum Kutschbock. Der Kutscher lag in unnatürlich gekrümmter Haltung auf der Bank. Seine Augen starrten leblos in die Nacht. Aus seinem Hals lief gleichmäßig ein dunkles Rinnsal – Blut.

      „Oh, mein Gott“, entfuhr es Vivienne.

      „Das ist ein Überfall.“ Ihr ehemaliger Reisegefährte grinste schief. „Nun gebt mir all’ Eure Habseligkeiten.“ Er wandte sich an seinen Komplizen: „Wir machen heut’ Nacht gute Beute. Die junge Mademoiselle reist zu ihrer Tante und hat bestimmt viel Geld dabei. Und die hier“, er richtete die Waffe in seiner Hand auf das zitternde Paar, das seine lautlos weinende Tochter zwischen sich gepresst hielt, „die haben was gespart. Ein neues Leben wollten sie anfangen.“

      Der Mann mit dem Messer lachte und drängte Vivienne von der Familie fort, bevor er sich umdrehte und mit dem Messer über die Brust der dicken Frau strich.

      Ich muss fort von hier, dachte Vivienne und presste die Arme eng an ihren Körper, um ein Zittern zu unterdrücken. Ich muss einen klaren Kopf bewahren.

      „Jetzt leert endlich Eure Taschen, los!“ Der Anführer spielte mit der Pistole an Viviennes Umhang. „Du zuerst.“

      Ohne zu zögern reichte sie dem Anführer mit unsicheren Händen ihren Beutel. Sie spürte, wie sich dabei Schweißtropfen unter ihren Achseln lösten und langsam an ihren Seiten herunterrannen, bis sie im Kleiderstoff versickerten.

      Ich muss fort von hier, dachte sie wieder.

      Der Mann mit der Pistole riss den Beutel an sich, öffnete ihn und holte das Münztäschchen hervor. Als er sah, wie viel Geld er in den Händen hielt, weiteten sich seine Augen gierig.

      „Jetzt zu Euch, Siedler“, lachte der Anführer und drehte sich um.

      Er lässt mich aus den Augen, dachte sie. Ich bin keine Gefahr für ihn!

      Natürlich nicht! Sie war unbewaffnet, und er hatte ihr Geld, ihr ganzes Geld. Sollte er es haben, ihr kleines Vermögen, wenn ihr bloß das Leben blieb.

      Es war stockdunkel und der Wald tiefstes Dickicht. War die Finsternis ihr noch bis vor wenigen Minuten unheimlich gewesen, so war sie jetzt dankbar dafür, zutiefst dankbar. Vivienne traute sich kaum zu atmen. Ihre Muskeln waren fest angespannt und das Kribbeln auf der Kopfhaut unter der Haube unerträglich. Sie machte einen Schritt rückwärts, kaum merklich. Es gelang ihr nahezu lautlos. Sie widerstand dem Impuls, sich umzudrehen und zu laufen, einfach loszulaufen. Wenn sie sich langsam bewegte, langsam und vorsichtig, bis sie ganz und gar mit der Dunkelheit verschmolzen wäre, dann konnte sie laufen. Aber erst dann!

      Sie tastete sich vorsichtig rückwärts, Schritt für Schritt, die Muskeln bis zum Zerreißen gespannt. Trockene Zweige zerbrachen leise unter dem Gewicht ihres Körpers. Die Konzentration auf die nahezu unmerkliche Bewegung ihrer Füße erforderte ihre vollkommene Aufmerksamkeit.

      Noch ein Stück!

      Und nur nicht stolpern, hoffte sie.

      Die Konturen von Familie und Räuber verschmolzen mit der Nacht.

      Wenn ich sie nicht mehr sehen kann, können sie mich auch nicht mehr sehen.

      Der Gedanke in ihrem Kopf gewann mehr und mehr an Klarheit.

      Jetzt konnte sie es wagen. Ihr Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren.

      Jetzt! Meine Beine – hoffentlich versagen sie mir nicht den Dienst.

      Die Gedanken in ihrem Kopf schlugen Purzelbäume. Jetzt!

      Vivienne drehte sich um und rannte ins Nichts. Sie stolperte über Äste und Wurzelreste. Dornen rissen an ihrem Mantel und ihrer Haube, ein Ast schlug unsanft gegen ihre Schulter. Aber sie spürte nichts. Sie lief um ihr Leben.

      „Die Kleine ist weg“, hörte sie jemanden rufen.

      „Lass sie laufen. Die kommt hier nicht weit“, antwortete eine andere Stimme.

      Der Anführer? Der Mann mit dem Messer? In ihrer Angst war es ihr unmöglich, die Stimmen zu unterscheiden.

      Drei Schüsse.

      Vivienne stockte kurz der Atem.

      Ich muss laufen! Ich muss weg!

      Sie spürte weder körperliche Pein noch Müdigkeit – nur Angst, Todesangst.

      Eine Ewigkeit schien vergangen, als sie kraftlos und nach Luft ringend auf die Knie sank. Vivienne vermochte nicht zu sagen, wie lange sie durch den dunklen Wald gelaufen war – Minuten, Stunden? Ihre Muskeln entspannten sich, die Hammerschläge des Herzens in ihren Ohren wurden erträglicher, und sie erbrach sich.

      Sie kroch auf allen Vieren fort von dem Erbrochenen und holte tief Luft. Beine und Füße waren schwer und schmerzten. Die Waden krampften.

      Vivienne tastete blind um sich, bis sie einen Busch fand. Sie schob das Gestrüpp auseinander, brach Zweige ab, zog die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf und legte sich in