Ute Christoph

Im Land der drei Zypressen


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mit meinen Augen?“

      Ihre Stimme klang merkwürdig fremd in ihren Ohren. Instinktiv griff sie sich ins Gesicht, das ein feuchtes Tuch bedeckte und nur Mund und Nase frei ließ. Vivienne stöhnte, zog mühsam die Last von ihren Augen und hob die Lider.

      „Ihr seid krank und hattet bisweilen sehr hohe Temperatur“, sagte eine Frauenstimme freundlich.

      Angestrengt versuchte Vivienne, sich zu orientieren. Sie befand sich in einem fremden Bett. Vorhänge aus schwerem Brokat verdunkelten die Fenster.

      Trotz des gedämpften Lichts fühlte Vivienne sich gelbendet und jeder Lidschlag bereitete ihr unerträgliche Qual. Ihre Kehle war rau und trocken.

      Die freundliche Frau schien ihre Gedanken lesen zu können, denn sie hielt Vivienne ein Glas an die rissigen, geschwollenen Lippen. Dabei beugte sich ein Gesicht über sie, das ihr seltsam bekannt vorkam.

      Sie hatte ihr Zuhause verlassen oder etwa nicht? Und sie lag in einem fremden Zimmer, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie konnte nicht zu Hause sein! Dann, ganz langsam und bruchstückhaft, kam die Erinnerung zurück – der Überfall, die Angst zu sterben, der Irrweg durch den Wald, die drei Zypressen, der qualvolle Weg den Hügel hinauf, die Allee mit den Rotbuchen. Und dann war sie in den Armen dieser Frau ohnmächtig geworden.

      „Danke“, flüsterte sie, als das Glas behutsam von ihren Lippen abgesetzt wurde. „Wo bin ich und….“

      Ein plötzlicher Hustenanfall schüttelte sie. Sie legte die Hand auf die Brust, wie um sie vor dem Zerbersten zu schützen.

      „Schont Eure Kräfte“, sagte die Frau warm. „Ihr seid noch sehr schwach.“

      Vivienne schloss die Augen und spürte, wie ihr erneut das feuchte Tuch über Stirn und Augen gelegt wurde. Es duftete nach Kräutern. Sie fühlte sich geborgen und fiel in einen traumlosen, heilsamen Schlaf.

       Auziale, 10. Mai 1850

      Als sie wieder erwachte, war sie allein.

      Vivienne tastete nach ihren Lippen. Sie waren verheilt. Behutsam öffnete und schloss sie ihre Augen. Der Schmerz war fort. Sie räusperte sich umständlich und stellte beruhigt fest, dass auch ihr Brustkorb nicht länger wehtat.

      Wie lange hatte sie geschlafen?

      Langsam setzte sie sich auf und sah sich in dem geräumigen, angenehm nach Rosmarin duftenden Zimmer um.

      Sie befand sich in einem riesigen Bett, bedeckt mit kostbarstem Damast. Neben dem Bett stand ein schwarzes Holztischchen und darauf eine zur Hälfte mit Wasser gefüllte Karaffe, ein Glas und ein Fläschchen mit einer Flüssigkeit, die wie Medizin aussah. Gegenüber dem Bett befand sich ein Schrank, dessen Türen nur angelehnt waren.

      Der Raum verfügte über zwei große, immer noch von den schweren Vorhängen verdeckte Fenster. Zwischen den Fenstern befand sich eine Truhe. Auf dem Boden lagen bunte Teppiche, die ihr sehr wertvoll schienen. Vivienne seufzte. Wohin das Schicksal sie auch geführt haben mochte, es war gut.

      Sie ließ sich in die warmen, weichen Kissen zurücksinken und schlief ein.

      Die Tür öffnete sich leise. Vivienne sah auf und erkannte die Frau mit der freundlichen Stimme, die nun den Raum betrat. Sie war klein, hatte ein rundliches Gesicht und blickte sie aus aufmerksamen, grünen Augen an. „Mir scheint, Ihr seid genesen. Eure Temperatur ist normal und die Wunden sind verheilt. Wie fühlt Ihr Euch?“

      Vivienne lächelte: „Ich glaube, mir geht es gut.“

      „Mögt Ihr aufstehen? Selbstverständlich müsst Ihr Euch noch schonen. Aber Ihr solltet Euch an die frische Luft begeben. Ich lasse Euch einen Sessel in den Garten bringen. Luft und Sonne werden Euch gut tun“, sagte die Frau.

      „Wie lange bin ich jetzt hier?“ fragte Vivienne.

      „Oh, drei Wochen sind es, fast auf den Tag genau. Ja, gestern vor drei Wochen kamt Ihr zu uns.“

      „Drei Wochen? Seit drei Wochen bin ich hier? Ihr pflegtet mich gesund, ich verdanke Euch mein Leben – und Ihr kennt nicht einmal meinen Namen. Darf ich mich Euch vorstellen? Ich bin Vivienne Sésérac.“

      „Ein sehr schöner Name! Mich nennt man Agnès. Ich bin die Köchin und beaufsichtige das Mädchen“, lachte Agnès. Und von Zeit zu Zeit pflege ich sterbenskranke, junge Frauen wieder gesund“, fügte sie dann hinzu.

      „Wo bin ich hier?“ wollte Vivienne wissen.

      „Ihr befindet Euch auf Auziale, auf dem Gut der Héraults“, antwortete Agnès. „La Patrone ist Madame Ludivine. Sie lebt hier zusammen mit ihren drei Söhnen Daniel, Philippe und Claude. Daniel und Claude sind verheiratet – mit Christine und Claire.“

      Agnès stemmte die Hände in ihre kräftigen Seiten.

      „Ich schicke Euch jetzt Francine, das Mädchen. Sie wird Euch beim Ankleiden behilflich sein.“

      „Danke. Ich danke Euch für alles“, sagte Vivienne, „Ihr habt so viel für mich getan.“

      „Ach, das habe ich doch gern gemacht, meine Liebe“, antwortete Agnès und verließ das Zimmer.

      Vivienne streckte die Beine aus dem Bett und fuhr sich mit den Fingern durch das glatte, braune Haar. Es fühlte sich sauber und geschmeidig an. Jemand hatte es gewaschen, während sie geschlafen hatte. Sie empfand eine starke Dankbarkeit für die Fürsorge, die ihr zuteil geworden war.

      Die Tür öffnete sich erneut, dieses Mal ein wenig schwungvoller. Ein ganz in Grau gekleidetes Mädchen ihres Alters stand im Raum. Das musste Francine sein. Sie knickste höflich und machte sich dann an den angelehnten Türen des Schranks zu schaffen. „Madame hat Euch Kleider bringen lassen. Euer eigenes hing Euch in Fetzen vom Leib. Ihr ward lange krank. Aber nun scheint es Euch besser zu gehen“, sprudelte sie.

      Ich habe großes Glück im Unglück gehabt, dachte Vivienne. Das Schicksal hat mich zu einer wahrhaft gastfreundlichen und guten Familie geführt.

      Das Gefühl von Dankbarkeit wuchs, während sie in dem eigens für sie in den Garten gebrachten und mit einer Unzahl von Kissen ausstaffierten, schweren Sessel saß.

      Es war warm, doch Agnès hatte eine leichte Decke über sie gebreitet. Und sie hatte Sorge dafür getragen, dass Francine gelegentlich nach ihr sah, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen und zu fragen, ob sie hungrig oder durstig war. „Wenn Mademoiselle etwas braucht, bringst Du es ihr. Am besten wäre es, wenn Du ihr die Wünsche von den Augen abliest“, hatte Agnès das Mädchen bestimmt wissen lassen.

      Männer und Frauen, Jungen und Mädchen eilten geschäftig den Weg vor den kleinen Häusern am Ende des Gartens auf und ab. Sie trugen etwas aus den Häusern, das aussah wie aufgerollte braune Matten, verschwanden aus Viviennes Blickfeld und kamen mit großen Flechtkörben zurück. Neugierig warfen sie der fremden Frau im Garten verstohlene Blicke zu.

      „Ich heiße Euch herzlich bei uns willkommen.“

      Vivienne vernahm die klare, dunkle Stimme, bevor sie den Mann sah, dem sie gehörte und der jetzt mit einem Holzstuhl in der Hand vor ihr stand.

      „Darf ich?“

      Ohne ihre Antwort abzuwarten, platzierte er den Stuhl vor sie und setzte sich rittlings darauf.

      Angesichts der direkten Art des Mannes errötete sie.

      „Vivienne Sésérac“, sagte sie ein wenig verschüchtert und reichte ihm ihre schmale Hand.

      Er nahm sie sanft und deutete galant den Kuss eines wohlerzogenen Mannes knapp unter der Wurzel ihres Mittelfingers an.

      „Philippe Hérault“, stellte er sich vor, „der Zweitgeborene in dieser Familie.“

      Seine türkisfarbenen Augen leuchteten in dem braungebrannten Gesicht und blickten sie offen und ehrlich an, während er den Stuhl näher rückte.

      Vivienne hatte gelernt, Konversation mit Fremden zu machen, doch angesichts der fröhlichen,