Ute Christoph

Im Land der drei Zypressen


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in einem dunklen Wald mit wilden Tieren. Doch noch bevor ihr die Situation, in der sie sich befand, in ihrer ganzen Tragweite bewusst zu werden drohte, schlief sie ein.

      Sie schlief einen unruhigen, traumlosen Schlaf. Das Gehölz war dicht und so konnte ihr zumindest der einsetzende Regen nichts anhaben.

      Als die Nacht dem Morgengrauen wich, erwachte sie. Ihr Gesicht spannte. Sie befühlte es vorsichtig und ertastete einige Schwellungen und eine Risswunde, die quer über die linke Wange verlief. Auch ihre Stirn war blutverkrustet. Jeder Muskel ihres Körpers tat unsäglich weh. Mutterseelenallein befand sie sich inmitten eines unbekannten Waldes. Ihr Herz war schwer. Aber sie konnte nicht weinen.

      Vorsichtig sah sie sich um. Nichts! Nichts außer Bäumen, Büschen und Dornen.

      In welche Richtung sollte sie gehen? Wo würde sie Menschen finden?

      Sie zog den vom Morgentau feuchten Umhang aus und glättete das zerknitterte Kleid.

      In welche Richtung war sie geflüchtet? Hatte sie bei ihrer Flucht überhaupt eine Richtung eingehalten oder war sie wie von Sinnen kreuz und quer durch das Dickicht gelaufen? Sie musste raus aus dem Wald.

      Es ist gleichgültig, in welche Richtung ich gehe, dachte sie, irgendwann müssen Felder kommen, ein Dorf, Menschen und – Wasser.

      Die dichten Baumkronen schützten sie vor der Hitze der erbarmungslos brennenden Sonne. Stumm dankte sie Gott dafür, denn Hunger und Durst waren Plage genug. Das letzte Mahl hatte sie kurz vor der Kutschfahrt zu sich genommen. Das war gestern Mittag gewesen. Dann fiel ihr ein, dass sie sich nach der Flucht vor den Räubern übergeben hatte. Vivienne war übel vor Hunger. Aber der Durst war noch viel schlimmer. Ihre Zunge klebte wie ein trockener Schwamm am Gaumen, die Lippen bluteten. Jedes Schlucken reizte die wunde Kehle.

      Der leichte Regen der letzten Nacht war restlos im trockenen Waldboden versickert.

      Wenn ich doch nur Wasser fände, dachte sie. Doch sie fand nicht einmal ein paar Beeren.

      Stundenlang schlug sie sich durch den tiefen, endlos scheinenden Wald. Wenn die Beine ihr den Dienst zu versagen drohten, lehnte sie sich gegen einen Baum. Würde sie sich nur einmal setzen, stünde sie nie wieder auf.

      Als die Sonne unterging und die Dunkelheit sich wie ein schwarzes Tuch über den Wald legte, suchte sie wie in der Nacht zuvor einen Busch, in dessen Schutz sie schlafen konnte. In der letzten Nacht hatte sie keine Angst vor den wilden Tieren verspürt. Die Erschöpfung war viel zu groß gewesen. Die furchterregenden Gedanken versuchten, sich nun in ihrem Kopf ausbreiteten, doch Vivienne schob sie einfach beiseite. Sie hatte nichts mehr, außer ihrem Leben und den Kleidern am Leib. Und ohne Wasser würde sie den nächsten Tag nicht überstehen.

      Mit von Dornen aufgerissenen, schmerzenden Händen zog sie Schuhe und Strümpfe aus. An den Füßen, die langes Gehen nicht gewohnt waren, hatten sich dicke Blasen gebildet. Vivienne hatte darauf keine Rücksicht genommen und war mit zusammengebissenen Zähnen weitergegangen. Die Blasen waren aufgeplatzt. Jetzt kräuselte sich die Haut am Wundrand. Sie betrachtete das offene, schutzlose Fleisch.

      Morgen werde ich auf Menschen treffen. Ja, morgen ganz bestimmt.

      Der neue Tag begann wie der alte geendet hatte. Mühsam schleppte sie sich vorwärts, fand kein Wasser, und die Hoffnung, endlich den Wald hinter sich zu lassen, wurde von Stunde zu Stunde schwächer und schwächer. Hände und Füße bluteten und die Wunden in ihrem geschwollenen Gesicht taten höllisch weh.

      Ach, würde ich doch nur einen Stein finden, dachte sie. Den könnte ich lutschen, um den Speichelfluss anzuregen.

      Doch sie fand keinen Stein.

      Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr, jammerte sie stumm. Und das Verlangen nach Wasser wurde übermächtig, das Denken immer schwerer und langsamer.

      Dann, am späten Nachmittag, in einem Augenblick größter Verzweiflung, öffneten sich ganz plötzlich die Bäume und sie trat, mit über die Augen gelegten Händen vorsichtig in die Sonne blinzelnd, hinaus auf ein Feld. Ihr Herz setzte vor Freunde einen Schlag lang aus.

      Endlich! Ich bin gerettet! Ich darf leben!

      Doch die Freude währte nur kurz. Weit und breit sah sie keine Menschenseele, keine Bauern oder Knechte, keine Tiere. Nichts!

      Mit ihrem durch die lange Stille des Waldes geschärften Gehör lauschte sie auf das Geräusch von Wasser, das Fließen eines Baches. Nichts!

      Der Horizont flimmerte im Licht der heißen Sonne. Vivienne kniff die Augen fest zusammen, bis sie scharf sah, und suchte in der Ferne nach Menschen, nach Wasser, nach Leben. Nichts!

      Als sie sich gerade am Feldrand niederlassen und endlich weinen wollte, sah sie ihn – einen Hang mit drei Zypressen, deren Spitzen sich majestätisch dem Himmel entgegenstreckten. Wo Zypressen stehen, ist Wasser. Der Gedanke traf sie wie ein Blitz. Sie fühlte Kraft. Jegliche Müdigkeit schien mit einem Mal verflogen. Sie musste um jeden Preis zu den drei Zypressen, denn dort war Wasser. Danach würde sie sich auf die Suche nach Menschen begeben.

      Vivienne warf den warmen Umhang ab und begann zu laufen.

      Sie hatte den Wald hinter sich gelassen, doch zwischen ihr und den Zypressen lag noch ein sehr weiter Weg. Die plötzliche Stärke und Zuversicht wichen erneut dem Gefühl von Schwäche, Einsamkeit, Angst und dem tiefen Wunsch, endlich anzukommen. Sie verlangsamte ihre Schritte.

      Ich werde es schaffen! Ich werde nicht aufgeben!

      Immer wieder und wieder sprach sie sich stumm Mut zu und setzte schleppend einen Fuß vor den anderen.

      Jäh stand sie vollkommen erschöpft vor dem Hang. Sie sah die Zypressen nicht mehr. Die Sonne stand hoch am Himmel und verbrannte ihr ungeschütztes, verletztes Gesicht.

      Sie kämpfte mit Tränen und dem Bedürfnis, sich zu setzen und sich einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Doch Vivienne wollte leben. Sie durfte jetzt nicht aufgeben. Sie hatte sich der ungewollten Ehe mit der Flucht aus ihrem Elternhaus widersetzt, sich dem mörderischen Zugriff der Räuber entzogen und war einsam und allein durch den Wald geirrt. Sie war so weit gekommen.

      Sie grub die abgebrochenen Nägel in die zerschundenen Handflächen, bis es schmerzte.

      Jetzt nicht aufgeben, weitergehen, nicht an die Müdigkeit und die Schmerzen denken, befahl sie sich und stolperte den Hang hinauf.

      Auf unsicheren Beinen kämpfte sie sich durch Büsche und Dornen, die ihr weitere Wunden in Gesicht und Arme rissen. Vivienne sank auf die Knie und schleppte sich auf allen Vieren mühsam vorwärts. Ihr Herz raste, sie schwitzte und das Atmen fiel ihr schwer.

      Nach einer Zeit, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, gelangte sie auf eine Ebene. Sie stand auf und rieb sich die erdigen, blutenden Hände an ihrem zerfetzten Kleid. Vor sich sah sie einen mit Kies bedeckten Weg, flankiert von gepflegten Rotbuchen, und am Ende der Allee ein wunderschönes großes Bruchsteinhaus mit einer breiten Treppe. Am Ende dieses Weges gab es Wasser!

      Das vertraute Geräusch von Kies unter ihren Füßen, wie auf dem elterlichen Gut, ein kurzer Gedanke an Zuhause. Sie torkelte traumverloren zwischen den vor ihren Augen unscharf flimmernden Bäumen vorwärts. Ihr war unerträglich heiß und gleichzeitig liefen ihr eiskalte Schauer über Rücken und Arme. Sie fieberte. Den Durst, die Erschöpfung, ihren gepeinigten Körper – das alles spürte Vivienne nicht mehr.

      Sie erreichte das Ende der Straße und warf noch einen kurzen Blick auf die vor dem Haus gepflanzten drei Zypressen.

      Die Zypressen! Ich habe es geschafft! Ich bin am Ziel, dachte sie müde.

      „Das arme Kind. Sebastian, bring mir Wasser, schnell, schnell“, hörte sie, bevor sie in den Armen einer herbeieilenden Frau zusammenbrach.

      Dann senkte sich bleierne Schwärze auf sie herab. Vivienne verlor das Bewusstsein.

       Auziale, 18. April 1850

      Sie konnte die Augen nicht öffnen. Ein zentnerschweres