Ute Christoph

Im Land der drei Zypressen


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Nacht um Euch zu kümmern.“

      „Ich bin sehr froh, dass Eure Familie sich meiner so fürsorglich angenommen hat“, sagte Vivienne und schüttelte einen Grashüpfer von ihrer Hand.

      „Glaubt Ihr, dass Ihr heute Abend bereits in der Lage seid, gemeinsam mit uns zu essen? Ich glaube, Maman würde sich freuen. Und der Rest der Familie ebenfalls.“

      „Ja, sehr gern. Und ich möchte die Gelegenheit nutzen, um mich bei Ihrer Mutter für die Freundlichkeit zu bedanken, mit der mir hier begegnet wurde … und wird“, fügte sie hinzu.

      „Das wird Maman glücklich machen“, lachte Philippe, „sie liebt das.“ Er stand auf. „Ich gehe jetzt wieder zurück an die Arbeit. Das liebt Maman auch.“

      Er nickte ihr zu, griff den Stuhl bei der Lehne und ging.

      Vivienne fingerte nach dem Glas mit Wasser, das Francine aus dem Gartenbrunnen geschöpft und auf das Tischchen neben ihr gestellt hatte, trank und spürte, wie sich das kühle Nass in ihr ausbreitete und einen kleinen See in ihrem Magen bildete. Die Wärme und das kurze Gespräch mit Philippe hatten sie ermüdet. Sie schloss die Augen und nahm mit den verbleibenden Sinnen wahr. Sie sog den Duft der Landschaft in sich auf: Lavendel, Rosmarin und Wildblumen. Ein zielloser Wind streichelte ihr Gesicht und spielte mit den braunen Strähnen, die sich aus dem aufgesteckten Haar gelöst hatten.

      Vivienne hörte das Lachen der Menschen auf dem Gut und freundlich gerufene Befehle. Die lebendigen Geräusche verschmolzen mit den zarten Düften und bildeten einen Raum um sie, in dem ihr nur der Wind Gesellschaft leistete.

      Sie verbrachte den ganzen Tag in ihrem Sessel im Garten. Bis auf die Begegnung mit Philippe und das gelegentliche Erscheinen von Francine, die sich im immer selben freundlichen Tonfall nach ihren Wünschen erkundigte, blieb sie allein.

      Als die Sonne hinter den Bergen versank, die Menschen auf dem Gut die Arbeit niederlegten und ihre Häuser aufsuchten, verließ sie den Sessel und kehrte zurück auf ihr Zimmer.

      Sie legte die Kleider ab und stand jetzt vor dem großen Porzellantisch. Die Waschschüssel war mit warmem Wasser gefüllt, ein Schwamm, Seife, mehrere Leinentücher und eine große Bürste bereit gelegt worden.

      Vivienne tauchte den Schwamm in die Schüssel, wrang ihn aus und presste ihn auf ihr Gesicht. Die warme Feuchtigkeit war so beruhigend.

      Sie blickte in den blanken Spiegel über dem Porzellantisch und fuhr mit den Zeigefingern die Ränder unter ihren Augen nach. Sie würden verblassen, wenn sie erst wieder vollständig genesen und zu Kräften gekommen war. Die tiefen Risse auf Wange und Stirn hatten nur zwei haarfeine Linien hinterlassen.

      Vivienne nahm sich Zeit, sich sorgfältig zu waschen. Anschließend warf sie einen Blick in den Schrank, in dem ihre neuen Kleider hingen. Madame Hérault hatte es sehr gut mit ihr gemeint. Sechs Kleider, mit dem beigefarbenen, das sie tagsüber getragen hatte, waren es sieben – eines für jeden Tag der Woche. Im Schrank hing auch ein wärmender Umhang mit Kapuze, auf einem Brett lagen zwei Häubchen und Unterzeug.

      Vivienne wählte ein olivgrünes Gewand mit feiner Spitze über den Brüsten und an den Handgelenken. Sie nahm die Nadeln aus ihrem Haar, das ihr glatt und dunkel bis auf die schmalen Hüften fiel, und kämmte es mit langen Bürstenstrichen.

      Derart versunken fuhr Vivienne erschrocken zusammen, als es an der Zimmertür klopfte.

      „Ja?“ fragte sie.

      „Ich bin es, Philippe, ich möchte Euch zum Abendessen begleiten.“

      „Oh, einen Moment bitte“, antwortete Vivienne und steckte sich eilig das Haar auf.

      Sie öffnete die Zimmertür. Philippe lehnte mit verschränkten Armen am Treppengeländer und machte große Augen. „Ihr seht bezaubernd aus. Man glaubt kaum, dass Ihr kürzlich noch so krank ward“, staunte er.

      Obwohl sie männliche Komplimente und Schmeicheleien gewöhnt war, errötete Vivienne verlegen und murmelte einen schüchternen Dank.

      Philippe reichte ihr einen Arm und führte sie über die breite, geschwungene Holztreppe hinunter in die Eingangshalle des Hauses. Aus dem gegenüber der Treppe liegenden Zimmer hörten sie Stimmen.

      Viviennes Begleiter nickte in diese Richtung.

      „Das ist der Speiseraum.“

      Die Flügeltüren zu dem mit Kerzen erleuchteten Raum standen weit offen. An einem großen Holztisch in der Mitte des Zimmers saßen sich zwei Paare gegenüber. Neben den Frauen war jeweils ein eingedeckter Platz noch unbesetzt. Am Kopf des Tisches befand sich ein weiteres Gedeck, der Stuhl davor war ebenfalls noch leer.

      „Darf ich Euch unseren Gast vorstellen – Vivienne Sésérac“, sagte Philippe, „und das“, er ging mit ihr zu einem der Männer, „das sind mein älterer Bruder Daniel und seine Frau Christine.“

      Daniel stand auf und küsste Viviennes Hand auf dieselbe galante Art wie sein Bruder Philippe wenige Stunden zuvor, als er sie im Garten aufgesucht hatte.

      Christine lächelte ihr fröhlich zu. Sie war klein und zierlich, hatte ein herzförmiges Gesicht mit einer winzigen Nase und einem kleinen, schön geformten Mund. Sie lächelte und an den Außenrändern ihrer grauen Augen bildeten sich Tausende winziger Fältchen. Sie trug das geflochtene, goldbraune Haar um den Kopf gewunden.

      „Wir freuen uns über Eure Gesellschaft heute Abend“, sagte sie mit einer klaren, für ihre Erscheinung außergewöhnlich tiefen Stimme.

      Philippe führte Vivienne auf die andere Seite des Tisches. „Mein jüngerer Bruder Claude“, Claude küsste ihre Hand, „und seine Frau Claire.“

      „Angesichts der Anwesenheit unseres Gastes schlage ich vor, die Tischordnung zu ändern“, sagte Christine. „Wir Frauen nehmen auf der einen Seite des Tisches Platz, die Männer auf der anderen.“

      Claire hob die Schultern und rückte ihren Stuhl geräuschvoll zurück.

      Daniel stand ebenfalls auf und ging um den Tisch herum.

      Philippe half Vivienne, neben Christine Platz zu nehmen.

      Im selben Augenblick betrat eine schlanke Frau den Raum.

      „Maman“, rief Claude.

      Er sprang auf und zog geflissentlich den Stuhl am Kopf der Tafel zurück.

      „Danke, meine Lieber“, antwortete die Frau.

      Das war Ludivine Hérault. Vivienne erhob sich.

      „Ich heiße Euch auf das Allerherzlichste bei uns willkommen“, sagte Ludivine und nahm Viviennes Hand.

      Ihr Händedruck war fest.

      „Ich schaute während Eurer Krankheit des Öfteren nach Euch. Leider schlieft Ihr immer tief und fest. Wie ich hörte, verbrachtet Ihr den heutigen Tag im Garten?“

      Vivienne nickte.

      „Wie gern hätte ich Euch begrüßt. Die Geschäfte erforderten allerdings meine Anwesenheit in St. Pons.“

      „Ich danke Euch für die Gastfreundschaft, Madame. Ich bin zutiefst dankbar für alles, was Ihr für mich getan habt“, sagte Vivienne.

      „Fühlt Euch bei uns zuhause. Und bleibt, solange Ihr mögt beziehungsweise es einrichten könnt.“

      Ludivine nahm Platz.

      „Ah, Ihr habt die Plätze getauscht. Sehr rücksichtsvoll gegenüber unserem Gast.“

      Sie klatschte in die Hände, und die Tür zum angrenzenden Raum öffnete sich. Agnès und Francine traten ein. Agnès schloss die große Doppeltür des Salons. Dann füllte sie die Gläser auf dem Tisch mit Wasser und Wein, während Francine eine große, dampfende Schüssel auf den Tisch stellte und begann, mit einer Kelle Suppe in die Teller zu schöpfen. Sie war jetzt schwarz gekleidet und trug ein weißes Häubchen über dem strengen Haarknoten.

      Ludivine faltete eine Serviette auseinander und