Ute Christoph

Im Land der drei Zypressen


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Vornehmlich beschäftigen wir uns mit der Seidenraupenzucht. Kennt Ihr Euch damit aus?“

      Vivienne schüttelte den Kopf.

      Philippe fasste sanft, aber fest ihren Ellbogen und führte sie auf einem schmalen Kiesweg hinter das Haus. Der Kies knirschte angenehm unter ihren langsamen Schritten. Vivienne atmete tief den Duft des Gartens ein.

      „Darf ich Euch davon erzählen?“ fragte Philippe, „von der Seidenraupenzucht, meine ich.“

      Die junge Frau nickte.

      „Die Zucht von Seidenraupen muss sehr sorgfältig vorbereitet und begleitet werden“, begann Philipp. „Seht Ihr? Dort hinten stehen unsere Maulbeerbäume.“ Er wies auf eine große Ansammlung kraftvoller Bäume. „Mit den Blättern dieser Bäume füttern wir die Raupen. Im Frühling, kurz bevor die Maulbeerbäume grün werden, legen wir die Grains, die Eier­, zur Ausbrütung in Zimmern aus.“

      Philippe zeigte mit der Hand auf die Häuser jenseits des Gartens. „Die Temperatur in den Zimmern erhöhen wir jeden Tag um ein bis drei Grad. Wir fangen bei Null Grad an und hören bei 18 bis 20 Grad auf.“

      Er blieb stehen, ließ Vivienne los und strich sich mit den Fingern eine Locke aus der Stirn. Seine Augen leuchteten. „Wir müssen die Grains mit großer Achtsamkeit behandeln. Sie sind sehr empfindlich.“

      Philippe schien sich der Aufgabe, mit der die Héraults ihren Lebensunterhalt bestritten, mit einer besonders ambitionierten Leidenschaft zu widmen. Eine solche Passion war ihr fremd. Weder ihr Vater noch ihre Brüder oder der Mann, dem sie versprochen gewesen war, hatten jemals so enthusiastisch von ihrer Arbeit gesprochen. Sie hatten über gute oder exzellente Ernten und Erlöse disputiert und sich in Gesprächen zu übertrumpfen gesucht, wer die besseren Geschäfte machte. Aber nie hatte Vivienne sie so begeistert über ihre Arbeit reden hören wie jetzt Philippe.

      „Es ist auch möglich, die Grains in Brutöfen aufzuziehen. Aber wir züchten noch nach der konventionellen Methode. Nach zehn bis 15 Tagen schlüpfen die Raupen. Wir heben sie vorsichtig mit jungen Maulbeerblättern auf und betten sie auf Hürden im Aufzuchtlokal. Sowohl die Hürden als auch das Aufzuchtlokal müssen zuvor äußerst penibel gereinigt werden.“

      Während Philippe erklärte, beobachtete er aufmerksam das Gesicht der jungen Frau und suchte vergeblich nach Anzeichen gelangweilter Müdigkeit. Sie war interessiert, stellte Philippe erstaunt fest. Er fuhr fort: „Nun müssen die Raupen Tag und Nacht alle drei Stunden mit frischen Maulbeerblättern gefüttert werden. Nur in den Häutungsperioden unterbrechen wir die Fütterung.“

      Philippe nahm erneut Viviennes Arm und schlenderte mit ihr an den Gebäuden vorbei, in denen die Seidenraupen gezüchtet wurden. Daneben lagen drei zweistöckige Häuser.

      „Hier leben unsere Arbeiter.“ Der junge Mann blieb wieder stehen. „Ihr müsst Euch noch schonen. Bitte setzt Euch. Ich hole Euch Wasser aus dem Brunnen.“ Er bedeutete Vivienne, auf der Bank am Weg Platz zu nehmen.

      Entspannt lehnte sie sich zurück und entdeckte einen kleinen Jungen, der vor der Tür eines der Wohnhäuser hockte und aufmerksam den Boden betrachtete.

      „Was tust Du da?“ fragte Vivienne.

      Der Kleine schaute mit scheuem Blick zu ihr auf. „Ich beobachte die Ameisen“, antwortete er leise, „und Ihr?“

      „Ich ruhe mich einen Moment aus.“

      „Seid Ihr die Frau, die so lange krank gewesen ist?“

      Der Junge machte einige Schritte auf Vivienne zu.

      „Ja, ich war sehr lange sehr krank. Aber jetzt geht es mir wieder recht gut. Wie heißt Du?“

      „Michel“, antwortete der Junge, „Und Ihr?“

      Vivienne nannte ihren Namen, „Wie alt bist Du?“

      „Ich bin schon sechs. Aber sie lassen mich noch nicht mitarbeiten. Sie sagen, ich bin noch zu klein. Wenn ich sieben bin, darf ich helfen, sagt meine Maman. Dann bin ich groß genug, um die Betten zu wechseln.“

      „Wie das?“ fragte Vivienne erstaunt, „wie willst Du die schweren Damastüberzüge denn von dem noch schwereren Bettzeug nehmen?“

      Michel freute sich augenscheinlich, mehr zu wissen als die Erwachsene. „Nein, nein, ich spreche von den Betten der Raupen.“

      „Ach so“, machte Vivienne, „das meinst Du“, und verstand überhaupt nicht.

      Philippe setzte sich neben sie und reichte Vivienne ein Glas Wasser. „Das erkläre ich Euch später“, flüsterte er. An Michel gerichtet, sagte er: „Du darfst mit Mademoiselle Sésérac noch nicht allzu lang reden. Sie muss noch sehr auf sich achten. Sie ist gerade erst genesen.“

      Vivienne schmunzelte, wurde jedoch sofort wieder ernst, denn Michel errötete bis zum Haaransatz. Verlegen zupfte er an seinem Ohrläppchen und trat von einem Bein aufs andere.

      „Mein lieber, kleiner Michel“, sagte sie sanft, „es war sehr schön, Dich kennenzulernen. Ich hoffe, dass wir unsere Unterhaltung bald fortsetzen.“ Sie nahm einen Schluck Wasser und rieb sich die Schläfen. „Philippe, ich bin ein wenig erschöpft. Und ich benötige etwas Abkühlung. Macht es Euch etwas aus, mich zum Haus zu begleiten?“

      „Selbstverständlich nicht.“

      Philippe sprang auf und reichte Vivienne seinen Arm. „Es tut mir leid. Seid Ihr unpässlich?“

      Vivienne machte eine abwehrende Handbewegung. „Nein, ich bin nur etwas müde. Salut, Michel.“ Vivienne hob die Hand und winkte dem Jungen zum Abschied.

      Philippe führte sie in den Salon, der sich gegenüber dem Speisezimmer befand. Vivienne nahm auf dem ausladenden Sofa Platz, das mit smaragdgrünem Samt bezogen war. Philippe holte einen dazu passenden Beinhocker, den Vivienne gern, wenn auch verwirrt, in Anspruch nahm. Es stand – so hatte man sie gelehrt – nur Herren zu, einen Beinhocker zu benutzen, während die Damen ihre Füße sittsam auf dem Boden beließen. Doch im Hause der Héraults schien man auf Konventionen zwar großen Wert zu legen, doch keine Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Privilegien für Männer und Frauen zu machen.

      „Habe ich Euch zu viel zugemutet?“ fragte Philippe, und Vivienne bemerkte aufrichtige Besorgnis in seiner Stimme.

      „Aber nein, Euer Bericht hat mich sehr interessiert. Ich möchte mehr über Eure Arbeit erfahren. Es ist nur: Die Hitze und das ungewohnte Gehen, nachdem ich so lange liegen musste – das hat mich schnell geschwächt“, antwortete Vivienne und hob entschuldigend die Hände.

      „Ihr möchtet mehr wissen?“ Philippes Augen blitzten auf. „Ich freue mich darauf, Euch alles zu erzählen, alles zu zeigen.“

      „Bitte“, fragte Vivienne und beugte sich vor, „was hat es mit dem Bettenwechseln auf sich? Ich war unehrlich gegenüber Michel. Ich gab vor zu wissen, was es bedeutet, aber…“ Sie hob die Schultern.

      „Das habt Ihr gestern unwissentlich beobachtet. Ihr saht, wie Männer, Frauen und Kinder Körbe in die Häuser brachten, die uns als Aufzuchtlokale dienen. Darin befanden sich Blätter und löchriges Papier Und sie kamen mit braunen Matten heraus. Nach der ersten Häutung der Raupen müssen wir die alten Lager mit den Exkrementen und Blattresten fortbringen. Erst werden löchriges Papier und frische Blätter auf die Raupen gelegt. Die Raupen kriechen darunter hervor, und wir übertragen sie auf neue Hürden. Die alten Lager rollen wir auf und schaffen sie weg. Das nennt man Bettenwechseln.“

      Philippe zog die Stirn in Falten und sah ein wenig hilflos aus.

      „Ja, jetzt habe ich verstanden – wirklich“, sagte Vivienne. „Und was passiert als nächstes?“

      „Als nächstes? Nun, nach etwa 30 bis 35 Tagen hören die Raupen auf zu fressen. Dann stellen wir Spinnhütten auf.“

      Philippe machte ein fragendes Gesicht.

      „Ihr vermutet richtig“, gab Vivienne zu, „ich weiß nicht, was Spinnhütten sind.“