Ute Christoph

Im Land der drei Zypressen


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kaltes Fleisch, Obst und etwas, auf dem wir uns niederlassen können.“

      Er breitete die Decke aus, an die Agnès ebenfalls gedacht hatte. Während Philippe Brot in Scheiben schnitt und Obst in mundgerechte Stücke zerkleinerte, redete er über die vom Frühling bis in den Winter nötigen Arbeiten im Weinberg. Und Vivienne gefiel es ungeheuer, seinen begeisterten Erzählungen zu lauschen. War er auf dem Weg zur Plantage noch irgendwelchen trüb wirkenden Gedanken nachgegangen und fast stumm neben oder vor Vivienne her geritten, unterbrach er sich jetzt nur, um sich ein Stück Obst in den Mund zu schieben oder von dem Brot zu kosten.

      „Jetzt habt Ihr einen doch sehr umfänglichen Eindruck von allem, was wir hier auf Auziale tun.“ Philippe stand auf und ließ abermals Wasser in die Holzbecher fließen. „Und Ihr erfüllt die Aufgabe, die Euch Maman angetragen hat, auch ganz hervorragend.“

      Vivienne lachte. „Meine Aufgabe? Eurer Mutter war sich gewiss, dass Agnès die Speisepläne zusammenstellt. Ich muss nur nicken und freundlich dabei lächeln. Um mich nicht ganz unnütz zu fühlen, helfe ich Christine im Garten und bei den Handarbeiten.“

      Philippe schmunzelte.

      „Auf dem Weg hierher ward Ihr sehr schweigsam. Ich hoffe, der Ausflug hält Euch nicht von wichtigen Angelegenheiten ab?“

      Philippe legte die Stirn in Falten. „Es war unumgänglich, heute in den Weinberg zu reiten, um mir vom Fortschritt der Arbeiten an den Rebstöcken ein genaues Bild zu machen. Ich ging in Gedanken nur einige Positionen in den Büchern durch, über die ich mit Maman gesprochen habe. Ihr erinnert Euch?“

      Vivienne nickte.

      „Es tut mir leid, wenn ich Euch mit meiner Sprachlosigkeit langweilte“, fuhr er fort. „Das war sehr unhöflich von mir.“

      „Oh, keineswegs. Entschuldigt bitte meine direkte Art der Frage.“

      „Es ist keine Entschuldigung notwendig. Ich freue mich über Euer Interesse an unserem Leben und unserer Arbeit. Ihr schient nicht gelangweilt, als ich Euch im Detail die Aufzucht der Seidenraupen erklärte.“

      „Ihr geht mit einer derart mitreißenden Begeisterung Eurer Arbeit nach, dass es eine Freude ist, Euch zuzuhören. Und Auziale ist wunderschön.“

      „Es ehrt mich, dass Ihr Euch wohl bei uns fühlt.“

      Ja, ich fühle mich hier sehr wohl, dachte sie.

      Verlegen senkte Vivienne den Blick.

       Auziale, 10. Juni 1850

      Sie wälzte sich unruhig hin und her, zog die Bettdecke glatt oder starrte mit unter dem Kopf verschränkten Armen in die Dunkelheit des Zimmers. Sie fand keinen Schlaf. Seit ihrer Genesung waren vier Wochen vergangen. Und sie war noch immer auf Auziale.

      Alle behandelten sie wie ein Familienmitglied und beteiligten sie an den täglichen Aufgaben.

      Vivienne fühlte sich wohl – zu wohl.

      Denn sie konnte nicht bleiben. Es gab keinen Grund zu bleiben. Sie gehörte nicht zu den Héraults, nicht zur Familie, nicht in ihr Leben, nicht auf dieses Gut. Sie gehörte nirgendwo hin. Sie war ganz allein auf der Welt.

      Sie dachte an ihr ursprüngliches Vorhaben, in der Stadt ein neues Leben als Kindermädchen zu beginnen.

      Es war Zeit zu gehen. Morgen früh würde sie den Héraults ihre Absicht kundtun. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

      Du dummes, kleines Mädchen, schalt sie sich und wischte sich die Tränen energisch von ihren Wangen. Du hast doch gewusst, dass Dein Aufenthalt hier endlich ist, dass Du nach Wiedererlangen Deiner Kräfte gehen musst, auch wenn es schwer fällt.

      Und es fiel ihr schwer. Sie hatte sich an die Familie, an ihr Leben mit den Héraults gewöhnt. Sie fühlte sich auf Auziale Zuhause. Wieder allein zu sein, einsam zu sein, war ein unerträglicher Gedanke. Einsam und allein in einer fremden Stadt.

      Doch Vivienne hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sie sich eingestand, dass sie nicht völlig ehrlich mit sich war. Natürlich genoss sie das Leben in dieser Familie, die Arbeiten im Garten oder gemeinsam mit den Frauen Wäsche auszubessern. Sie liebte die Gespräche mit der warmherzigen Ludivine und der gemütlichen Agnès. Sie freute sich über das erfrischende Lachen der Kinder auf dem Gut. Aber wenn sie nicht allein gehen müsste, wenn nur jemand mitginge, könnte sie das Gut leichteren Herzens verlassen. Und dieser Jemand war Philippe.

      In Gedanken sah sie das Glühen seiner türkisfarbenen Augen, seine braun gebrannten Hände, seinen schönen, vollen Mund. Sie hörte seine Stimme, erinnerte sich seiner Hilfsbereitschaft, seiner freundlichen, charmanten Art und der vertraut und lieb gewordenen Geste, mit der er sein Haar aus der Stirn strich.

      Ich liebe ihn, dachte Vivienne erschrocken, ich liebe ihn.

      Und das ist der wichtigste Grund, schnellstmöglich aufzubrechen, sagte eine innere Stimme. Auziale ist nicht Dein Zuhause. Und Du darfst Philippe nicht lieben. Du musst Deinen Weg gehen und der führt weg von Auziale, weg von Philippe.

      Morgen beim Frühstück werde ich es ihnen sagen und übermorgen reise ich ab.

      Jetzt waren die Tränen nicht mehr aufzuhalten.

      Vivienne betrachtete das zerwühlte Laken. Sie hatte unruhig geschlafen. An die schlechten Träume erinnerte sie sich nur schemenhaft. Als sie den Speiseraum betrat, saß die Familie bereits beim Frühstück. Philippe stand auf und half ihr, Platz zu nehmen.

      „Ich danke Euch“, begann sie und räusperte sich umständlich. „Ich danke Euch für alles, was Ihr für mich getan habt. Ihr habt mich gesund gepflegt, habt mich aufgenommen und mich wie ein Familienmitglied behandelt. Doch jetzt bin ich kräftig genug, um meinen Weg fortzusetzen.“ Vivienne schlug die Augenlider nieder und schluckte. „Ich werde morgen abreisen“, fuhr sie mit fester Stimme fort.

      Ludivine legte ihr Messer neben den Teller. „Ich bedaure sehr, dass Du gehen willst, aber wir können Dich nicht aufhalten.“

      Könnt Ihr doch, hätte Vivienne am liebsten laut gefleht. Stattdessen biss sie in das Stück Weißbrot, das sie mit Butter und Honig bestrichen hatte, und nahm einen Schluck starken Kaffee.

      „Die Kutsche verlässt Olargues morgen Mittag“, erklärte Claire.

      Christine drückte sanft Viviennes Hand.

      „Schade, dass Du gehst. Du bist mir eine liebe Schwester geworden“, sagte sie leise.

      „Das bist Du auch für mich“, antwortete Vivienne und streichelte Christines leicht gewölbten Bauch. Wie gerne hätte sie die Geburt des ersten Kindes von Christine und Daniel miterlebt, Ludivines erstem Enkelkind.

      Aber es gab keinen Grund für sie zu bleiben. Sie zwang sich zu lächeln. Sie wollte ihren letzten Tag auf Auziale von Herzen genießen, auch wenn in jedem Augenblick die Wehmut ihr trister Begleiter war.

      Der Abschiedsschmerz ließ Vivienne nicht zur Ruhe kommen. Unruhig warf sie sich in ihrem Bett von einer Seite auf die andere. Morgen würde sie sich verabschieden, anschließend von Sebastian nach Olargues begleitet, dort die Kutsche besteigen und dann, ja, dann…

      Die junge Frau schlug die Bettdecke zurück, setzte die Füße auf den kalten Boden und sah zum offenen Fenster. Ein zunehmender Mond stand am sternenklaren, schwarzsamtenen Himmel. Die Luft war kühl und roch würzig. Eine Nachtigall in einem Baum sang ihr einsames Lied.

      Neben der Tür stand ihr Koffer. Nach dem Abendessen waren Ludivine und Vivienne allein im Speiseraum zurückgeblieben. Die ältere Frau hatte ihre Hand genommen.

      „Die Kleider in Deinem Schrank nimmst Du als Geschenk von mir mit auf Deine Reise“, hatte sie dann gesagt.

      „Das kann ich nicht annehmen. Ihr habt schon so viel für mich getan.“

      „Oh doch, das kannst Du, und das wirst Du.“ Ludivines Ton war sanft, aber bestimmt. „Meine Gedanken werden Dich Dein Leben lang begleiten, und ich wünsche Dir alles Glück