Ute Christoph

Im Land der drei Zypressen


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haben, warten wir acht Tage. In dieser Zeit verpuppen sie sich. Nun zerlegen wir die Spinnhütten und sammeln die Kokons ein. Anschließend wird sortiert. Schwache oder fleckige Kokons verwenden wir nicht.“

      „Und was geschieht mit den Kokons, die nicht schwach oder fleckig sind?“

      „Die kommen in besondere Öfen.“

      Vivienne verzog das Gesicht. „Der letzte Teil behagt mir nicht sonderlich“, sagte sie.

      Philippe lachte. „Ich stimme Euch zu. Als ich noch ein Junge war, habe ich jedes Jahr, wenn die Kokons in die Öfen kamen, bitterlich geweint. Aber im Laufe der Jahre habe ich mich offensichtlich daran gewöhnt.“

      „Ach, hier finde ich Euch.“ Claire lehnte sich gegen den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. Philippe und Vivienne, ganz vertieft in ihr Gespräch, sahen überrascht auf. Sie hatten sie nicht kommen hören.

      „Maman sucht Dich. Sie ist mit den Büchern befasst und möchte einige Positionen mit Dir besprechen.“

      Philippe erhob sich. „Ihr entschuldigt mich?“

      „Selbstverständlich“, antwortete Vivienne.

      „Aber geht bitte nicht fort. Ich komme wieder.“ Philippe zwängte sich an seiner Schwägerin vorbei.

      Claire schloss die Tür hinter ihm. „Gefällt es Euch bei uns?“ fragte sie dann.

      „Oh ja“, antwortete Vivienne und lächelte warmherzig. „Sogar sehr. Ihr seid eine sehr gastfreundliche Familie.“

      „Mhmm“, machte Claire und nagte an ihrer Unterlippe.

      „Euer Schwager war so freundlich, mir die Seidenraupenzucht zu erklären.“

      „Aber Ihr hattet, so hoffe ich, dennoch Gelegenheit, Euch um die Speisenfolge für den heutigen Abend zu kümmern?“

      Vivienne nickte.

      „Nun, ich muss Euch leider verlassen. Es gibt viel zu tun auf einem so großen Gut wie Auziale. Wir sehen uns spätestens beim Abendessen.“ Claire setzte ein schiefes Lächeln auf und verließ den Raum.

      Vivienne atmete tief ein. In Claires alleiniger Anwesenheit hatte sie sich plötzlich unwohl gefühlt. Hatte sie mit der Aussage, auf Auziale gäbe es viel zu tun, Kritik an ihrem Müßiggang und Philippes Arbeitsmoral geübt? Weil er sie heute auf einem Rundgang über das Gut begleitet hatte? Aus welchem Grund hatte Claire sie getadelt?

      Das ist absurd, schalt sie sich und schüttelte die entstandene Beklommenheit ab.

      Als Philippe in den Salon zurückkehrte, hatte sie die Begebenheit und das damit zusammenhängende Gefühl bereits als empfindliche Fantasie abgetan.

      „Ich hoffe, dass Ihr so lange bei uns bleibt, bis wir mit den Kokons nach Lyon reisen.“

      „Werden Sie dort verarbeitet?“ fragte Vivienne interessiert.

      „Ja, ja“, bestätigte Philippe, „Ich glaube, wir könnten es einrichten, dass Ihr uns begleitet.“

      Eine derart lange Reise hatte Vivienne noch nie getan. Natürlich wäre es aufregend, die große Stadt kennenzulernen, die alles, was sie jemals gesehen hatte, übertreffen würde. Andererseits fröstelte es sie bei dem Gedanken an die vielen anstrengenden Tage in einer Kutsche, die auf unbefestigten Wegen in die Ungewissheit fuhr. Zu frisch waren die Erinnerungen an die erst kürzlich erlebten Ereignisse im Wald.

      „Oder Ihr erzählt mir, was dort passiert“, sagte sie fröhlich und sah Philippe fest in die Augen.

      „Wenn Ihr uns bis dahin verlassen müsst, ...“ Der junge Mann rieb sich mit dem Zeigefinger nachdenklich über die Oberlippe, „dann erzähle ich es Euch.“

      Vivienne glaubte, in seiner Stimme ein gewisses Bedauern auszumachen.

      „Glaubt Ihr, schon wieder reiten zu können?“ fragte er dann.

      Vivienne nickte.

      „Dann zeige ich Euch morgen unseren Weinberg.“

      Aber weder am nächsten noch am übernächsten Tag war es Philippe möglich, sich die Zeit für einen Ritt in den Weinberg zu nehmen. Wichtige Aufgaben auf dem Gut machten seine Anwesenheit unabdingbar. Vivienne verbrachte diese Tage in Christines Gemüsebeeten, jätete Unkraut, erntete Salat, unternahm kurze Spaziergänge mit Ludivine und erledigte gemeinsam mit den Frauen notwendige Handarbeiten.

      Die Sonne brannte auf Auziale herab, während Philippe und Vivienne zwei Tage später über die baumbesäumte Allee ritten. Die Blätter der Rotbuchen bewegten sich leicht im Wind, der Vivienne und Philippe ein wenig Kühlung verschaffte. Philippe schwieg. Er hatte sie kurz mit einem strahlenden Lächeln begrüßt, ihr galant auf das Pferd geholfen und lenkte jetzt stumm sein Ross neben dem ihren.

      Vivienne blickte ihn an. Er hatte ein schönes Profil mit markanten Wangenknochen. Seine widerspenstigen Locken wippten mit dem Schritt seines Pferdes auf und ab.

      Er drehte sich zu ihr und strich sich eine Locke aus der Stirn. Seine türkisfarbenen Augen leuchteten geheimnisvoll, aber warm im Licht der durch die Baumkronen gefilterten Sonne.

      Am Ende der Allee wand sich rechter Hand ein Pfad in den Berg. Philippe lenkte sein Ross auf den leicht ansteigenden Weg, und Vivienne tat es ihm gleich. Der Pfad war gesäumt von knorrigen Montpelliereichen, deren Blätter im Licht wie Smaragde glühten.

      Sie passierten aus Bruchstein errichtete Terrassen, auf denen sich kräftige Maronenbäume in den Himmel reckten. Vivienne fragte sich, wie viel Zeit und wie vieler Hände Arbeit es bedurft hatte, eine einzige Terrasse fertigzustellen. Die großen, schweren Steine lagen gleichmäßig aufeinander geschichtet, die Zwischenräume waren sorgsam mit Erde gefüllt. Auf einigen Terrassen entdeckte Vivienne kleine Häuser aus demselben Stein, die sich fast unsichtbar in ihre Umgebung fügten.

      „Sie bestehen meist nur aus zwei Zimmern“, erklärte Philippe, als eine Kate abermals Viviennes Blick fesselte. „In dem unteren Raum leben Mensch und Tier, oben wird Heu gelagert.“

      „Sind sie noch bewohnt?“ fragte Vivienne und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, auf der sich winzige Schweißperlen gebildet hatten.

      „Einige von ihnen“, antwortete Philippe. „Es gibt immer noch Menschen, die sich von Maronen ernähren. Aber mit Beginn der Seidenindustrie zog es immer mehr Familien in die Städte. Unsere Mazets im Weinberg sind ein wenig größer als diese Häuser.“

      Sie kannte Mazets, die kleinen Herbergen, die den bei der Traubenlese von Weinberg zu Weinberg ziehenden Tagelöhnern Schutz und Unterkunft boten. Hier verbrachten die Arbeiter die Nacht, bevor sie mit Anbruch des neuen Tages die reifen, süßen Trauben pflückten oder zum nächsten Berg weiterzogen.

      Der Pfad bog sich ein letztes Mal und endete ganz plötzlich vor einem Feld voller sprießender Rebstöcke – so weit das Auge blicken konnte. Arbeiter waren mit der sorgfältigen Pflege des Berges beschäftigt, entfernten Unkraut und schnitten trockene Triebe aus den Weinstöcken.

      „Wir reiten zur Quelle“, schlug Philippe vor. „Unsere Pferde sind durstig, und uns würde eine kleine Erfrischung ebenfalls gut tun.“

      Sie ritten an den Arbeitern vorbei, die neugierig aufsahen, an ihre Mützen tippend grüßten, um sich dann wieder mit gebeugten Rücken den Reben zu widmen.

      Klares, kaltes Wasser sprudelte aus dem Berg in ein Becken, schwappte über den Rand und versickerte lautlos in der Erde.

      Sie saßen ab. Philippe nahm zwei Holzbecher aus einer am Sattelknauf seines Tieres befestigten Tasche und füllte sie mit Wasser. Vivienne trank gierig ihren Becher leer.

      „Mhmm, das tut gut“, sagte sie und füllte den Becher erneut. Das kalte Wasser perlte glitzernd über ihre warme Hand, in den Tropfen die Farben des Regenbogens.

      Ihr Begleiter lächelte und strich sich eine Locke aus der Stirn. „Ich habe uns Proviant einpacken lassen. Das Reiten hat Euch