Ute Christoph

Im Land der drei Zypressen


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Das hatte sie bei den zahlreichen Gesellschaften, die ihre Eltern gegeben hatten, gelernt und im Laufe der Jahre perfektioniert.

      Ludivine hatte kluge grüne Augen, die unter schweren Lidern immer noch leuchteten und weißes, kurzes Haar über einem runden Gesicht mit tiefen Grübchen. Ihre Haut war gebräunt, was darauf schließen ließ, dass sie sich nicht wie andere Damen ihres Standes außerhalb des Hauses in den Schutz eines Sonnenschirms begab. Die schlanke Frau war klein, im Gegensatz zu ihren drei Söhnen, die hoch gewachsen waren.

      Alle drei Männer hatten türkisfarbene Augen. Während Daniel und Claude ihr tiefschwarzes, glattes Haar kurz trugen, schienen Philippes pechschwarze Locken ein trotziges, unbändiges Eigenleben auf seinem Kopf zu führen.

      Philippe und Daniel besaßen ovale Gesichter mit schönen geraden, langen Nasen. Claude hatte das runde Gesicht seiner Mutter und ihre feine kurze Nase geerbt.

      Vivienne fragte sich, wie wohl Ludivines Ehemann aussehen mochte und wo er sich aufhielt.

      Sie blickte von ihrem Teller auf und wurde des Kamins gewahr, der sich neben der Tür zur Küche befand. In ihm prasselte ein kleines Feuer. Jetzt im Frühjahr waren die Tage schon sehr warm, doch abends sanken die Temperaturen beträchtlich.

      Mit der ihr eigenen, geübten Unauffälligkeit studierte Vivienne das mit einem goldenen Rahmen verzierte Ölgemälde über dem Kamin. Es zeigte einen etwa vierzigjährigen Mann mit hellblauen Augen. Sein lockiges Haar umrahmte ein sehr schmales Gesicht mit einer langen, geraden Nase über vollen Lippen. Er hatte große Ähnlichkeit mit Philippe. War das der Vater der drei Männer? Ludivines Ehemann?

      „War die Suppe nach Eurem Geschmack?“ erkundigte sich ihre Gastgeberin und legte den Löffel auf ihren Teller.

      „Wunderbar, danke. Ich erinnere mich kaum an eine so köstliche Mahlzeit“, antwortete Vivienne unbedacht und errötete.

      Sie war fest entschlossen, weder zu sagen, woher sie kam, noch wohin sie wollte, und sie beschlich eine leise Angst, sich durch unbedachte Äußerungen zu verraten.

      Aber Ludivine sah sie ohne Argwohn warmherzig an: „Dann werdet Ihr beim Hauptgericht Augen machen“, sagte sie verheißungsvoll, während Francine die leeren Suppenteller abräumte.

      Agnès betrat den Salon und stellte eine Platte mit Fleisch auf den Tisch.

      „Heute Abend gibt es kleine, gefüllte Wachteln mit Kartoffeln. Und ich hoffe, Ihr mögt unseren Salat. Christine pflanzt im Gemüsegarten alles an, was hier wächst und gedeiht. Und das scheint mir eine ganze Menge zu sein.“ Ludivine schenkte ihrer Schwiegertochter einen liebevollen Blick und zog bewundernd eine Augenbraue hoch. „Ihr werdet doch noch eine Weile bei uns bleiben, oder?“ fragte sie dann freundlich.

      „Wenn es Euch genehm ist, sehr gerne“, antwortete Vivienne zaghaft.

      „Darf ich Euch in diesem Fall eine Aufgabe anvertrauen?“

      „Selbstverständlich.“

      „Würdet Ihr nach dem Frühstück mit Agnès den Speiseplan für den Abend zusammenstellen?“ Ludivine machte eine kurze Pause. „Natürlich nur, wenn Ihr Euch schon dazu in der Lage fühlt.“

      „Oh“, machte Vivienne, „es wäre mir eine große Ehre und eine ebensolche Freude.“

      „Philippe“, sagte Ludivine, „und vielleicht ­hast Du kurzfristig Gelegenheit, unserem Gast zu zeigen, was wir hier tun.“

      „Das werde ich“, sagte Philippe und sah seine Mutter mit dem Blick des den Eltern gegenüber üblichen Gehorsams an.

      Vivienne betrachtete ihn kurz. Den Bruchteil eines Lidschlags lang beschlich sie das Gefühl, als verberge sich hinter seiner Zusage, den Wunsch seiner Mutter zu erfüllen, auch Freude, dass sie ihm diese Aufgabe angetragen hatte. Im selben Augenblick schämte sich Vivienne dieses Gedankens und schob den flüchtigen Eindruck auf das fast leere Glas Wein, das sie zügig geleert hatte. Die Wirkung des Weines hatte sich nach der langen Abstinenz infolge ihrer Krankheit umso schneller eingestellt. Um weiteren derart schamlosen Gedanken vorzubeugen, betupfte sie ihren Mund mit der in ihrem Schoß liegenden Serviette und nahm einen großen Schluck Wasser in der Hoffnung, sich weiterer ähnlicher Gefühle schnellstmöglich erwehren zu können.

      Als Vivienne später in die weichen Kissen ihres geräumigen Bettes sank, fühlte sie sich so wohl wie schon seit langem nicht mehr. Alles war so weit entfernt: der für sie ausgesuchte ungeliebte Ehemann, der Beginn ihrer Reise, der Überfall, die Angst zu sterben, die Flucht vor den Räubern, das übermäßige Verlangen nach Wasser und Nahrung und die körperliche Pein, die sie während ihrer Irrungen durch den Wald und der unendlichen Einsamkeit erdulden musste.

      Sie fühlte sich wohl auf Auziale.

      Am nächsten Morgen suchte Vivienne gleich nach dem Frühstück Agnès in der Küche zur Planung der Speisenfolge am Abend auf. Während Agnès, die fleischigen Hände in die Seiten gestemmt, schmunzelnd auf Viviennes Vorschläge wartete, zog diese angestrengt die Brauen zusammen.

      „Was haben wir an Fleisch vorrätig?“ fragte sie und wunderte sich, wie leicht ihr das ‚wir’ über die Lippen kam. Andererseits: Agnès hatte sie gesund gepflegt und warmherzig mit ihr gesprochen, als Vivienne zum ersten Mal aus tiefem Schlaf erwacht war. Die Köchin schien ihr angenehm vertraut.

      „Sebastian hat in der letzten Woche ein Wildschein erlegt“, antwortete Agnès, „dazu servieren wir eine Apfelsauce und Salat von unseren Gartentomaten“, half Agnès weiter.

      „Und als Vorspeise Suppe?“ fragte die junge Frau und legte den Kopf schief.

      „Nein, nein, Francine geht heute ins Backhaus. Deshalb schlage ich zur Vorspeise Brot mit Butter und zur Nachspeise Käse vor.“

      Vivienne lächelte die Köchin an. „Wenn Ihr mich jeden Tag so freundlich unterstützt, wird es mir wohl kaum möglich sein, Fehler bei meiner neuen Aufgabe zu machen“, sagte sie dann.

      „Das werden wir in jedem Fall zu vermeiden wissen. Morgen reite ich mit Sebastian auf den Markt in St. Pons. Was haltet Ihr von Fisch?“

      „Fisch wäre köstlich“, sagte Vivienne.

      „Dazu reichen wir frischen grünen Salat mit meiner ganz speziellen Kräutersauce. Für weitere Speisen lasse ich mich auf dem Markt inspirieren.“

      Vivienne nickte, verließ die Küche und ging vor das Haus. Die Morgensonne spielte mit den Nadeln der drei Zypressen. Die Baumspitzen bogen sich leicht im schwachen Frühlingswind.

      Sie haben mir den Weg hierher gewiesen, dachte Vivienne, in das heimelige Zuhause der Héraults.

      „Mein Mann hat sie gepflanzt“, hörte sie.

      Die junge Frau fuhr erschrocken herum. Ludivine war hinter sie getreten und legte jetzt ihre Hand beruhigend auf Viviennes Rücken. Ihr Blick wanderte angelegentlich zwischen den Spitzen der Zypressen hin und her.

      „Als wir heirateten, versprach er mir, für jedes Kind, das ich ihm schenke, eine Zypresse zu pflanzen. Und er hielt sein Wort. Jedes Mal, wenn ich ihm ein Kind gebar, setzte er – nur einen oder zwei Tage später – eine Zypresse“, sagte Ludivine.

      „Warum Zypressen?“ fragte Vivienne.

      „Nun, sie schienen ihm ein schönes Sinnbild. Diese einfachen Gewächse weisen Menschen den Weg zum lebensnotwendigen Wasser. Sie sind stark und biegsam. Und für unsere Kinder hatte er ebensolche Wünsche. Sie sollten starke Menschen werden, aber bewegt, wenn andere in Not gerieten. Mir gefiel dieses Sinnbild.“ Ludivine schüttelte den Kopf, wie um einen plötzlichen, lästigen Gedanken zu verscheuchen, und sah Vivienne in die Augen. „Philippe wird gleich bei Euch sein. Er wird Euch auf Auziale herumführen und Euch zeigen, was wir tun. Wenn es seine Arbeit erlaubt und Ihr schon kräftig genug dafür seid, reitet er auch mit Euch in den Weinberg. Guten Tag, meine Liebe.“

      Vivienne erwiderte den Wunsch und sah der gedankenverloren ins Haus zurückkehrenden Ludivine nach.

      Philippe